Rezension

Empörung ist leicht, Zuhören eine Kunst

Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen widmet sich in seinem neuen Buch dem Zuhören und analysiert, warum das kaum einer wirklich tut. Gerade in Zeiten des Wahlkampfs ist seine Analyse wichtig.
Von Anna Lutz
Gerüchte, Skandale und Spektakel in Echtzeit – die vernetzte Welt existiert in einer Stimmung der Nervosität und Gereiztheit. Bernhard Pörksen analysiert in einem Buch das digitale Zeitalter.

Missbrauchsskandal. Ukrainekrieg. Klimakrise. Begriffe, die dieser Tage zu den umkämpften zählen, Spaltungspotenzial in sich tragen, die Grenzen zwischen Menschen markieren.

Wieso dauerte es Jahrzehnte, bis die Verbrechen an Kindern in der Kirche auch als solche benannt wurden? Oder bis die Politik sich, mehr oder weniger zumindest, gegen die globale Erwärmung stark machte? Wieso fällt es vielen Russen bis heute schwer, die Wahrheit eines Angriffskrieges durch ihren Staatsführer anzuerkennen, warum gehen sie selbst jetzt kaum dagegen auf die Straße?

Dem Medienwissenschafler Bernhard Pörksen dienen diese Beispiele in seinem neuen Buch „Zuhören. Die Kunst sich der Welt zu öffnen“ als Belege fürs Aneinander-Vorbeihören. Dabei ist das Thema seines Buchs nicht nur sein Lebensthema, wie er jüngst in einem Interview der „Zeit“ sagte. Es ist auch eines, das gerade jetzt im deutschen Wahlkampf wieder einmal seine Abgründe präsentiert. Man denke etwa an den Kampf um die Deutungshoheit der Parteien beim Thema Migration. Und frage sich: Hört hier eigentlich irgendeiner der politischen Kontrahenten dem anderen wirklich zu? Gibt es ein Ringen um Wahrheit und richtige politische Maßnahmen? Oder geht es hier einzig und allein um eine Inszenierung, mit deren Hilfe Stimmenanteile generiert werden können?

Foto: Hanser
Bernhard Pörksen, „Zuhören“, Hanser, 336 Seiten, 24 Euro

Darauf gibt Pörksen selbstverständlich keine Antwort, sein Buch erscheint am 28. Januar, wurde also weit vorher geschrieben. Dennoch lässt es Rückschlüsse auch auf aktuelle Debatten zu. Die These: Wir hören einander nicht richtig zu. Und dafür gibt es Gründe. 

Weg mit den Heiligenbildern

Einen dieser Gründe entwickelt er am Beispiel der Missbrauchsfälle an der Odenwaldschule. Obwohl es schon 1999 einen ersten Artikel in der „Frankfurter Rundschau“ zu Missbrauchsvorwürfen gab, blieb das Thema unter dem Radar und wurde erst 2010 im Zuge der Missbrauchsfälle am Berliner Canisius-Kolleg wirklich bekannt. Nur wieso? 

Pörksen geht davon aus, dass ehrliches und offenes Zuhören, hier also das Den-Opfern-Zuhören eine Außenperspektive braucht. Es muss jemand kommen, der erstens nicht von jeher mit dem System verknüpft ist und daher noch keine „Heiligenbilder“ im Kopf hat, und zweitens vielleicht sogar selbst Opfererfahrungen gemacht hat, die ihn empathisch werden lassen. Pörksen nennt das „Du-Ohr“ und „Ich-Ohr“. Die Idee: Man hört anders zu, wenn man etwas selbst erlebt hat. Man hört im Gegensatz dazu eher nicht zu, wenn das eigene Weltbild durch das Gesagte droht, erschüttert oder völlig zerstört zu werden.

„Man kann also“, so schreibt Pörksen, „scheinbar interessiert und zugewandt zuhören – und hört doch eigentlich nur sich selbst, gefangen im System der eigenen Urteile und Vorurteile (…)“. Und weiter: „Was liegt da näher, als die so lange eingeübte Idealisierung einfach fortzusetzen, sich gemeinsam unterzuhaken und die alten Lieder einfach noch einmal zu singen, nun aber lauter und so energisch wie nur möglich, um die rumorenden inneren und äußeren Stimmen zu übertönen?“ 

Empathie statt Belehrung

Auf die Spitze getrieben, schildert er das im Falle des Ukrainekrieges am Beispiel des Unternehmers Misha Katsurin. Als die russische Armee in sein Land einmarschierte, glaubte sein in Russland lebender Vater ihm nicht – ebenso wie viele von dessen Landsleuten. Aus dieser Erfahrung heraus begann er, über den Krieg zu bloggen, und zwar auf Russisch. Zwar erreichte er damit viele Menschen. Nachhaltig scheint die Arbeit aber nicht gewesen zu sein. Der Blog ist eingestellt. Große und zahlreiche Demonstrationen gegen den Krieg in Russland blieben aus.

Pörksens Erklärung: „Stell dir vor, du hättest dein Leben lang ein rundes Fenster in deinem Zimmer gesehen, und nun sagt dir jemand, selbst deine Angehörigen, dass es eigentlich ein eckiges Fenster sei.“ Die Perspektive des Anderen einzunehmen, mit dem „Du-Ohr“ zu hören, misslinge in solchen Fällen oft, besonders, wenn derjenige, dem man zuhören wolle, der erklärte Feind sei. 

Das Gegenmittel: Vor allem gegenseitige Empathie. Keinesfalls Gewalt oder Missmut in der Debatte. „Mobbing“ so Pörksen in Richtung derjenigen, die Wahrheiten verbreiten wollten, helfe wohl kaum dabei, das runde Fenster als eckiges zu enttarnen. Und auch an die Zuhörer hat er eine Botschaft: „Es gilt, sich vorsichtig, behutsam, mit allen Chancen des Scheiterns von den definitiven Urteilen, den wohlklingenden, aber wirklichkeitsfernen Idealen und den falschen Abstraktionen zu lösen, die Ruhebank eigener, fester Wahrheiten zu verlassen, immer und immer wieder neu, um den anderen irgendwann in seiner Andersartigkeit zu erkennen und ihn wirklich zu hören.“ 

„Es gilt, sich vorsichtig, behutsam, mit allen Chancen des Scheiterns von den definitiven Urteilen, den wohlklingenden, aber wirklichkeitsfernen Idealen und den falschen Abstraktionen zu lösen, die Ruhebank, eigener, fester Wahrheiten zu verlassen, immer und immer wieder neu, um den anderen irgendwann in seiner Andersartigkeit zu erkennen und ihn wirklich zu hören.“ 

Bernhard Pörksen in „Zuhören“

Pörksen spart in seinem Buch nicht an Kritik an Sozialen Netzwerken. Letztere seien auf Hypes, Superlative und Ökonomisierung ausgelegt und allein deshalb keineswegs Orte des aufmerksamen Zuhörens. Sie gaukelten jedem die Chance auf Berühmtheit vor, dabei sei letztere allein den Schrillen, Privilegierten und Lauten vorbehalten. Diese Machtkonzentration verhindere echtes Zuhören. Mehr noch, es sorge für Verbitterung bei denen, die trotz der Versprechen, gehört werden zu können, keine Stimme hätten. 

Empörungstribalismus: ein Stamm gegen den anderen

Vielleicht der wichtigste und wertvollste Terminus, den Pörksen in „Zuhören“ einführt, ist der „Empörungstribalismus“. „Wahr ist, so lautet das Leitmotiv des Empörungstribalismus, was der eigenen Perspektive entspricht, was ihr bei der Durchsetzung eigener Interessen nützt; unwahr ist, was dem eigenen Interesse zuwider läuft.“ Jeder wisse scheinbar immer schon Bescheid, niemand müsse mehr genau hinschauen, gar zuhören, anstelle dessen stehe die „empörte Diskursanalyse“. Wahr ist, was der eigene „Stamm“ (daher das Wort Tribalismus) vertritt, sei er links, rechts, progressiv, liberal, fordere er Klimagerechtigkeit, Cancel Culture oder politische Korrektheit. Empathie gebühre ebenfalls ausschließlich den eigenen Leuten. 

Dem setzt Pörksen eine Maxime entgegen, die er sich nicht nur selbst auf die Fahne schreibt, sondern die zugleich auch eine Grundtugend des Journalismus sein sollte: „Denn bevor man kritisiert, (…) gilt es, sich dem anderen erst einmal zuzuwenden, fasziniert von seiner unvermeidlichen Fremdheit, voller Neugier und Vorfreude auf das, was sich zeigen und im Gespräch offenbaren könnte (…).“ Das, so Pörksen, sei der „Weg des Zuhörens“, dafür wolle er werben. 

So ist das Buch „Zuhören“ nicht nur ein Plädoyer für ehrliches und echtes Miteinander. Es ist auch eine Absage an Alarmismus, Schubladendenken und Voreingenommenheit. Es ist der ehrliche Wunsch nach einer Rückkehr zum fairen Streit, zur Neugier, zum Ringen um Wahrheit. Politik, Medien und Zivilgesellschaft sollten diesen Ruf zur Kenntnis nehmen. Gerade in Zeiten des Wahlkampfs.

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