EKD und Evangelikale – Gemeinsam gegen Diffamierung?

Die Proteste gegen das Christival in Bremen und den Kongress für Psychotherapie und Seelsorge in Marburg haben die evangelische Landeskirche und die evangelikale Strömung gezwungen, sich wieder neu über ihre gegenseitige Solidarität klarzuwerden. Das meint der Verhaltenswissenschaftler und Spezialist für Sekten und religiöse Sondergruppen, Hansjörg Hemminger.
Von PRO

In der aktuellen Ausgabe des Materialdienstes der "Evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen" (EZW) analysiert Hemminger unter der Überschrift "Feindbild Evangelikale" die vergangenen Proteste gegen Veranstaltungen evangelikaler Prägung. Angesichts des Protestes gegen den 6. Internationalen Kongress für Psychotherapie und Seelsorge in Marburg im Mai stellt er fest: "Die Kampagne gegen den Marburger Kongress entsprach fast exakt der, die 2008 gegen das Christival in Bremen geführt worden war – mit dem Unterschied, dass es dort das Thema Homosexualität im Programm gegeben hatte und dass die Veranstalter dem Druck nachgegeben hatten."

"Linke bauen Feindbild ‚Evangelikale‘ auf"

Hemminger ist überzeugt: "Die linken Flügel der Grünen und der SPD sowie der Linkspartei sind seit einiger Zeit dabei, die evangelikale Bewegung zum Feindbild aufzubauen. Dahinter steckt ein simples Machtkalkül: Der Kampf gegen die Religion, der vor 2001 in der alten Bundesrepublik kaum von politischer Bedeutung war, ist inzwischen Anliegen eines Klientels, um das Grüne und SPD mit der Linkspartei konkurrieren. Wer deswegen Radikale dazu ermutigt, den Evangelikalismus, oder gar den Pietismus, gesellschaftlich zu ächten, spielt allerdings das Spiel aus ‚Biedermann und die Brandstifter‘. Faktisch stärkt man dadurch die extremen Ränder des politischen Spektrums."

Die "Steilvorlage" der Kongressgegner sei prompt "von den üblichen Verdächtigen rechts außen" der Evangelikalen genutzt worden, so Hemminger. So habe etwa die "rechtskatholische Kulturkritikerin" Gabriele Kuby eine Unterschriftenliste zur Unterstützung des Kongresses organisiert. In einem offenen Brief wurde Marburgs Oberbürgermeister gebeten, den Kongress entgegen den Forderungen der Kongressgegner stattfinden zu lassen. Eine Verbotsforderung des Aktionsbündnisses "Kein Raum für Sexismus, Homophobie und religiösen Fundamentalismus" stelle einen Angriff auf fundamentale Freiheitsrechte dar, die in der Verfassung garantiert seien, so der Brief. Auch der "Arbeitskreis Christlicher Publizisten" (ACP) hatte die Unterschriftenaktion unterstützt. "Diese Kreise entsprechen sehr wohl dem Feindbild eines politisierten christlichen Fundamentalismus", meint Hemminger.

"Randalierer zielen auf christlichen Glauben ab"

Über die Gegner des Christival in Bremen und des Marburger Kongresses schreibt der Wissenschaftler: "Der Schritt zur allgemeinen Kirchen- und Religionskritik ist für die Randalierer klein. Die Diffamierungen, die sich gegen die Kongressteilnehmer richteten, zielten auf die Mitte des christlichen Glaubens, auf die Person Christi, auf Kreuz und Vaterunser."

Die Reaktion der Veranstalter indes habe gezeigt, dass der Pietismus kaum dem "Feindbild eines politisierten christlichen Fundamentalismus" entspreche: "Sie versuchten in geradezu rührender Weise, die Gegner von ihren guten Absichten zu überzeugen. Gemäß ihrer Profession agierten sie auf der Beziehungsebene anstatt auf der Sachebene und beschwichtigten, wo Politik nötig gewesen wäre." Die ökumenische Lebensgemeinschaft "Christus-Treff" habe sich in einer fünfseitigen Erklärung Punkt für Punkt mit den Vorwürfen auseinander gesetzt, "als ginge es darum, Missverständnisse auszuräumen". Hemminger stellt fest: "Kein Versuch, politische Unterstützung aufzubauen, keine PR-Strategie, nichts von dem, was die Fundamentalisten der ‚moral majority‘ in den USA so gut beherrschen."

Keine Hilfe durch die EKD

Der Verhaltenswissenschaftler konstatiert, dass die Landeskirche und die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) den "überforderten Veranstaltern" nicht zur Hilfe kamen. "Die evangelische Kirche spielte in Marburg keine Rolle. (…) Im weltanschaulichen Pluralismus ist sie zu einer Sinnagentur unter anderen geworden." Die evangelische Landeskirche müsse nach Meinung Hemmingers ihr Verhältnis zum Evangelikalismus "neu bedenken". Zur "kritischen Solidarität" gebe es künftig "keine Alternative mehr". Hemminger weiter: "Die gewohnten kirchenpolitischen Grabenkriege des Protestantismus sind Sache ewig Gestriger."

Und auch die evangelikale Seite sei gezwungen, über ihre Solidarität mit der evangelischen Kirche nachzudenken. Bremen und Marburg hätten gezeigt, dass es den "Windschatten der Volkskirche, in dem man sich politisch unbehelligt fromme Seltsamkeiten leisten konnte, von der Schulverweigerung über die öffentliche Dämonenaustreibung bis zum Kreationismus" nicht mehr gebe. Der Dialog zwischen der evangelikalen Strömung und der Volkskirche lasse sich nicht länger zu vermeiden.

Hansjörg Hemminger ist Beauftragter für Weltanschauungsfragen der Evangelischen Landeskirche in Württemberg. Er studierte Biologie und Psychologie. Er schrieb unter anderem Bücher und Aufsätze über Scientology, Psychotherapie und Sekten. (PRO)

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