Unabhängig vom physikalischen Hergang des Erdbebens, von den Kontinentalkrusten, die am 12. Januar ein 35 Sekunden langes Beben auslösten und zu einer Katastrophe mit Hunderttausenden von Toten und Verletzten führten, stellt sich vielen in solchen Situationen die Sinnfrage. Wie kann Gott das zulassen? Und auch der Blick vieler Journalisten richtet sich auf die Religion der Haitianer.
"Die Menschen schrien nach Jesus" lautete die "Welt"-Schlagzeile am Tag nach dem Beben, und die "Süddeutsche Zeitung" überschrieb am Montag einen Haiti-Artikel mit den Worten "Verloren in Gottes Hand". Religion, darauf weisen viele Medienvertreter hin, spielt in dem von Katastrophen, Bürgerkrieg und Diktaturen gebeutelten Land eine große Rolle. Aber welche Religion?
Viele Journalisten sind sich unsicher: Sind die Haitianer besonders gläubig? Oder abergläubisch? Okkult oder katholisch? 80 Prozent der Bevölkerung in Haiti sind offiziell katholisch. "Haiti, das war immer auch karibische Magie", erklärt das Magazin "Der Spiegel", das Haitis Erdbeben zum Titelthema seiner aktuellen Ausgabe gemacht hat. "Den Überlebenden, die in den ersten stromlosen Nächten kreolische Hymnen sangen, um den Beistand des Himmels zu erflehen, wurde nicht geholfen, Haiti blieb, was es eigentlich schon vor dem Beben war – ein von Gott verlassenes Land." Die Autoren beschreiben eine Nacht in der Hauptstadt Port-au-Prince so: "Lange, heulende Laute wie von verletzten Tieren durchschneiden die schwere Tropenluft. Sie mischen sich in den Klagegesang, in das Beten und die Gesänge der Voodoo-Priester, die die Geister ihrer Vorfahren beschwören." Die Autoren beschreiben die schlimmen Zustände, die nach dem Beben derzeit herrschen: Leichen auf der Straße, Angehörige, die um ihre Verstorbenen trauern. Sie fragen: "Soll man das ‚postbiblisch‘ nennen? Oder doch bloß ‚apokalyptisch‘?" Das Magazin stellt fest: "Haiti ist ein armes, frommes, abergläubisches Land."
"Von Geisterhand gepeinigtes Land"
Sicher hatte Haiti immer auch ein politisches Problem. Von 1957 bis 1971 herrschte François Duvalier, "Papa Doc", als Präsident auf Lebenszeit. Sein Regime war gekennzeichnet von Gewalt und Willkür. Zwischen 1971 und 1986 wurde die Diktatur von seinem Sohn ("Baby Doc") fortgeführt. Bei den ersten freien Präsidentschaftswahlen kam 1990 der katholische Priester Jean-Bertrand Aristide an die Macht. Ab dem Jahr 2000 herrschten bürgerkriegsähnliche Zustände. Der "Spiegel" urteilt: "Haiti ist ein gescheiterter Staat, ein Land im Chaos." Hinzu kommen immer wieder Naturkatastrophen. Dem Wirbelsturm "Jeanne" im Jahr 2004 fallen 3.000 Menschen zum Opfer. Vier Jahre später vernichten vier weitere Wirbelstürme zwei Drittel der Ernte in einem ohnehin schon ärmsten Land der Erde. Rund 80 Prozent der Bevölkerung leben in Armut, mehr als die Hälfte sogar in extremer Armut.
"Ein wie von Geisterhand gepeinigtes Land" überschrieb die "Frankfurter Allgemeine Zeitung" vor kurzem einen Artikel über Haiti. Darin behauptet der Autor: "Warum in Haiti aus François Duvalier, ‚Papa Doc‘, einem Arzt, der eigentlich Leben schützen und bewahren soll, ein grausam mordender Diktator und aus dem Armenpriester Aristide ein Despot, der Hass und Gewalt predigt, werden konnten, lässt sich, wenn überhaupt, nur mit einem Phänomen erklären, das die gesamte haitianische Gesellschaft durchdrungen und im Bewusstsein der meisten Bewohner die Grenzen zwischen Leben und Tod, Friedfertigkeit und Gewalt, Loyalität und Feindschaft verwischt hat: Zwar ist Haiti im Grunde ein katholisches Land, doch geben drei Viertel der Bevölkerung zu, dem Voodoo-Kult zu huldigen."
Die häufigsten Wörter waren "Jesus, Jesus"
Schon kurz nach der Katastrophe fielen die religiösen Bezüge in den Berichten über Haiti auf. "Die Leute schrien ‚Jesus, Jesus‘ und rannten in alle Richtungen", schilderte Reuters-Reporter Joseph Guyler Delva die ersten Minuten nach dem Beben. Auch die kanadische Journalistin Chantal Guy, die eigentlich ein Porträt über einen Schriftsteller machen wollte, bestätigte das.
Die Haitianer suchen laut Medienberichten gerade jetzt, in Zeiten größter Not, nach Gott. Die "Süddeutsche Zeitung" berichtet von einer jungen Frau, die überlebte und den Reportern sagt: "Gott hat mich gerettet". Auf einer zerrissenen Fassade eines Schuhgeschäftes in der Rue des Miracles in Port-au-Prince stünden die Worte: "Dieu qui donne". Die Zeitung kommentiert: "Gott, der gibt. Und Gott, der nimmt, auch an der Straße der Wunder in Port-au-Prince, Haiti." Die österreichische "Presse" schreibt: "’Gott steh uns bei‘, ‚Jesus ist die Antwort‘ – Sprüche wie diese prangen auf den haitianischen Sammeltaxis, den Taptaps, die sich normalerweise durch die engen Straßen von Port-au-Prince schlängeln." Michael Huhn vom Lateinamerika-Hilfswerk der Katholischen Kirche Adveniat sagte gegenüber domradio.de: "Aus allem, was ich gesehen und gehört habe, erkenne ich, dass auch jetzt der Alltag der Menschen vom Glauben durchtränkt ist. In jedem Augenblick. Die Menschen knien sich nieder, beten und schreien heraus, was ihnen geschehen ist, sie verfluchen Gott und danken ihm, wenn sie gerettet sind. Eines der meistgesprochenen Wörter in diesen Tagen ist: Jesus, Jesus."
Voodoo und Gewalt
Die Mehrheit der Haitianer ist offiziell katholisch, doch der Voodoo-Kult und eine Vermischung mit Christlichem gehörten zum Alltag, berichten Haiti-Experten. Die FAZ schreibt, dass der Diktator "Papa Doc" mit dieser "aus dem afrikanischen Geisterglauben abgeleiteten religiösen Praxis sogar sein Verhalten als Staatsmann begründet" hat. Er selbst sei der "Baron Samedi", "also eine der wunderlichsten Gestalten im Pantheon der aus der christlichen Religion und afrikanischen Kulten in einem synkretistischen Prozess entstandenen, in ganz Haiti verbreiteten Kultform". Weiter heißt es: "Ausgerechnet der katholische Priester Aristide hatte den Voodoo-Kult mit einem Dekret zu einer staatlich anerkannten Religion erhoben (…). Der Voodoo-Kult liefert schließlich auch eine einleuchtende Erklärung, warum Gewalt und Gegengewalt, Unterdrückung und Machtkämpfe, Morden und Marodieren in Haiti fast schon wie Rituale praktiziert werden (…)."
Auch die "Basler Zeitung" schreibt unter der Überschrift "Mit Voodoo gegen Diktatoren und Katastrophen": "In Haiti hat gerade die Häufung von Krisen bei der Bevölkerung zu einem spezifischen Patriotismus geführt – und einem verbreiteten Glauben ans Magische." Der Ethnologe und Journalist David Signer schreibt: "Sogar politische Fragen werden in Haiti in hohem Maße unter magisch-spirituellen Aspekten ‚analysiert‘. Als am Vorabend von Aristides Sturz 2004 die Rebellen von Norden her vorrückten, war ich in Gonaïves, dem Zentrum der Rebellion. An einer zentralen Kreuzung legte ein Voodoo-Priester Opfergaben nieder, zündete einen Feuerkreis an, und Butter Métayer, eine der zentralen Figuren des Aufstands, leerte eine Flasche Rum darüber. Er erklärte mir, dass an diesem Platz Aristide die Statuen von Haitis Nationalhelden Dessalines, Louverture und Christophe aufgestellt habe, um sich der Kraft der Ahnen zu bemächtigen."
Der Schweizer Fotograf Thomas Kern, der seit zwölf Jahren regelmäßig nach Haiti reist, berichtet in derselben Zeitung: "Voodoo ist enorm wichtig für die haitianische Gesellschaft, der Alltag ist damit durchdrungen, wobei mir noch immer vieles rätselhaft ist. Die uns bekannten Zeremonien mit Hühnerblut und Leuten, die die Augen verdrehen und zusammenklappen, sind zwar auch Voodoo, aber nur ein kleiner Teil davon. Oft manifestiert sich der Kult bei ganz kleinen Sachen im Alltag, das interessiert mich viel mehr als spektakuläre Riten. Zum Beispiel das Verhältnis zum Geld. In Haiti wird überall auf der Straße gespielt. Wie das vor sich geht, hat viel mit Voodoo zu tun." Der amerikanische Fernsehprediger Pat Robertson ließ sich sogar dazu verleiten, den "Pakt mit dem Teufel" als Grund für eine "Strafe Gottes" zu bezeichnen. Er berief sich damit auf einen Bericht, nach dem die Bevölkerung 1791 diesen Pakt geschlossen habe, um von den französischen Kolonialherren befreit zu werden. Das sagte der 79-Jährige im Fernsehsender "Christian Broadcasting Network (CBN).
Nachbeben gesellschaftlicher Art
Das Kinderhilfswerk "Terre des hommes" hat angesichts der großen Zahl verwaister Kinder in Haiti vor der Gefahr von Kinderhändlern und Schleppern gewarnt. Tausende traumatisierte oder verwaiste Kinder irrten derzeit allein durch die Straßen. Haiti hat als ärmstes Land Amerikas auch eine der jüngsten Bevölkerungen der Welt – etwa 40 Prozent der Einwohner sind Statistiken zufolge jünger als 15 Jahre. Der Nachrichtensender CNN berichtete, in dem Land lebten schon vor dem Erdbeben rund 380.000 Waisenkinder. Jedes Jahr werden Tausende Kinder aus Haiti von ausländischen Eltern adoptiert, was dem Land bereits den Vorwurf einbrachte, Kinderhandel zu betreiben. Experten berichten zudem, dass Plünderung und Gewalt schon vor der Katastrophe "zum haitianischen Alltag" gehörten, nun jedoch zunähmen.
US-Außenministerin Hillary Clinton sprach von einer "biblischen Tragödie" in Haiti. Auch US-Präsident Barack Obama sah die Not, die sich auch existentiell unter den Menschen breit macht und ein Fragen nach Gott durchdrängen lässt. Seine Antwort ist, wie gewohnt, ganz irdisch: "Ihr schaut zum Himmel und fragt euch, ob ihr verlassen wurdet. Ich sage den Menschen in Haiti mit großer Klarheit: Ihr seid nicht verlassen worden, ihr werdet nicht vergessen. In dieser Stunde eurer größten Not steht Amerika euch bei." (pro)
"Die Menschen schrien nach Jesus" lautete die "Welt"-Schlagzeile am Tag nach dem Beben, und die "Süddeutsche Zeitung" überschrieb am Montag einen Haiti-Artikel mit den Worten "Verloren in Gottes Hand". Religion, darauf weisen viele Medienvertreter hin, spielt in dem von Katastrophen, Bürgerkrieg und Diktaturen gebeutelten Land eine große Rolle. Aber welche Religion?
Viele Journalisten sind sich unsicher: Sind die Haitianer besonders gläubig? Oder abergläubisch? Okkult oder katholisch? 80 Prozent der Bevölkerung in Haiti sind offiziell katholisch. "Haiti, das war immer auch karibische Magie", erklärt das Magazin "Der Spiegel", das Haitis Erdbeben zum Titelthema seiner aktuellen Ausgabe gemacht hat. "Den Überlebenden, die in den ersten stromlosen Nächten kreolische Hymnen sangen, um den Beistand des Himmels zu erflehen, wurde nicht geholfen, Haiti blieb, was es eigentlich schon vor dem Beben war – ein von Gott verlassenes Land." Die Autoren beschreiben eine Nacht in der Hauptstadt Port-au-Prince so: "Lange, heulende Laute wie von verletzten Tieren durchschneiden die schwere Tropenluft. Sie mischen sich in den Klagegesang, in das Beten und die Gesänge der Voodoo-Priester, die die Geister ihrer Vorfahren beschwören." Die Autoren beschreiben die schlimmen Zustände, die nach dem Beben derzeit herrschen: Leichen auf der Straße, Angehörige, die um ihre Verstorbenen trauern. Sie fragen: "Soll man das ‚postbiblisch‘ nennen? Oder doch bloß ‚apokalyptisch‘?" Das Magazin stellt fest: "Haiti ist ein armes, frommes, abergläubisches Land."
"Von Geisterhand gepeinigtes Land"
Sicher hatte Haiti immer auch ein politisches Problem. Von 1957 bis 1971 herrschte François Duvalier, "Papa Doc", als Präsident auf Lebenszeit. Sein Regime war gekennzeichnet von Gewalt und Willkür. Zwischen 1971 und 1986 wurde die Diktatur von seinem Sohn ("Baby Doc") fortgeführt. Bei den ersten freien Präsidentschaftswahlen kam 1990 der katholische Priester Jean-Bertrand Aristide an die Macht. Ab dem Jahr 2000 herrschten bürgerkriegsähnliche Zustände. Der "Spiegel" urteilt: "Haiti ist ein gescheiterter Staat, ein Land im Chaos." Hinzu kommen immer wieder Naturkatastrophen. Dem Wirbelsturm "Jeanne" im Jahr 2004 fallen 3.000 Menschen zum Opfer. Vier Jahre später vernichten vier weitere Wirbelstürme zwei Drittel der Ernte in einem ohnehin schon ärmsten Land der Erde. Rund 80 Prozent der Bevölkerung leben in Armut, mehr als die Hälfte sogar in extremer Armut.
"Ein wie von Geisterhand gepeinigtes Land" überschrieb die "Frankfurter Allgemeine Zeitung" vor kurzem einen Artikel über Haiti. Darin behauptet der Autor: "Warum in Haiti aus François Duvalier, ‚Papa Doc‘, einem Arzt, der eigentlich Leben schützen und bewahren soll, ein grausam mordender Diktator und aus dem Armenpriester Aristide ein Despot, der Hass und Gewalt predigt, werden konnten, lässt sich, wenn überhaupt, nur mit einem Phänomen erklären, das die gesamte haitianische Gesellschaft durchdrungen und im Bewusstsein der meisten Bewohner die Grenzen zwischen Leben und Tod, Friedfertigkeit und Gewalt, Loyalität und Feindschaft verwischt hat: Zwar ist Haiti im Grunde ein katholisches Land, doch geben drei Viertel der Bevölkerung zu, dem Voodoo-Kult zu huldigen."
Die häufigsten Wörter waren "Jesus, Jesus"
Schon kurz nach der Katastrophe fielen die religiösen Bezüge in den Berichten über Haiti auf. "Die Leute schrien ‚Jesus, Jesus‘ und rannten in alle Richtungen", schilderte Reuters-Reporter Joseph Guyler Delva die ersten Minuten nach dem Beben. Auch die kanadische Journalistin Chantal Guy, die eigentlich ein Porträt über einen Schriftsteller machen wollte, bestätigte das.
Die Haitianer suchen laut Medienberichten gerade jetzt, in Zeiten größter Not, nach Gott. Die "Süddeutsche Zeitung" berichtet von einer jungen Frau, die überlebte und den Reportern sagt: "Gott hat mich gerettet". Auf einer zerrissenen Fassade eines Schuhgeschäftes in der Rue des Miracles in Port-au-Prince stünden die Worte: "Dieu qui donne". Die Zeitung kommentiert: "Gott, der gibt. Und Gott, der nimmt, auch an der Straße der Wunder in Port-au-Prince, Haiti." Die österreichische "Presse" schreibt: "’Gott steh uns bei‘, ‚Jesus ist die Antwort‘ – Sprüche wie diese prangen auf den haitianischen Sammeltaxis, den Taptaps, die sich normalerweise durch die engen Straßen von Port-au-Prince schlängeln." Michael Huhn vom Lateinamerika-Hilfswerk der Katholischen Kirche Adveniat sagte gegenüber domradio.de: "Aus allem, was ich gesehen und gehört habe, erkenne ich, dass auch jetzt der Alltag der Menschen vom Glauben durchtränkt ist. In jedem Augenblick. Die Menschen knien sich nieder, beten und schreien heraus, was ihnen geschehen ist, sie verfluchen Gott und danken ihm, wenn sie gerettet sind. Eines der meistgesprochenen Wörter in diesen Tagen ist: Jesus, Jesus."
Voodoo und Gewalt
Die Mehrheit der Haitianer ist offiziell katholisch, doch der Voodoo-Kult und eine Vermischung mit Christlichem gehörten zum Alltag, berichten Haiti-Experten. Die FAZ schreibt, dass der Diktator "Papa Doc" mit dieser "aus dem afrikanischen Geisterglauben abgeleiteten religiösen Praxis sogar sein Verhalten als Staatsmann begründet" hat. Er selbst sei der "Baron Samedi", "also eine der wunderlichsten Gestalten im Pantheon der aus der christlichen Religion und afrikanischen Kulten in einem synkretistischen Prozess entstandenen, in ganz Haiti verbreiteten Kultform". Weiter heißt es: "Ausgerechnet der katholische Priester Aristide hatte den Voodoo-Kult mit einem Dekret zu einer staatlich anerkannten Religion erhoben (…). Der Voodoo-Kult liefert schließlich auch eine einleuchtende Erklärung, warum Gewalt und Gegengewalt, Unterdrückung und Machtkämpfe, Morden und Marodieren in Haiti fast schon wie Rituale praktiziert werden (…)."
Auch die "Basler Zeitung" schreibt unter der Überschrift "Mit Voodoo gegen Diktatoren und Katastrophen": "In Haiti hat gerade die Häufung von Krisen bei der Bevölkerung zu einem spezifischen Patriotismus geführt – und einem verbreiteten Glauben ans Magische." Der Ethnologe und Journalist David Signer schreibt: "Sogar politische Fragen werden in Haiti in hohem Maße unter magisch-spirituellen Aspekten ‚analysiert‘. Als am Vorabend von Aristides Sturz 2004 die Rebellen von Norden her vorrückten, war ich in Gonaïves, dem Zentrum der Rebellion. An einer zentralen Kreuzung legte ein Voodoo-Priester Opfergaben nieder, zündete einen Feuerkreis an, und Butter Métayer, eine der zentralen Figuren des Aufstands, leerte eine Flasche Rum darüber. Er erklärte mir, dass an diesem Platz Aristide die Statuen von Haitis Nationalhelden Dessalines, Louverture und Christophe aufgestellt habe, um sich der Kraft der Ahnen zu bemächtigen."
Der Schweizer Fotograf Thomas Kern, der seit zwölf Jahren regelmäßig nach Haiti reist, berichtet in derselben Zeitung: "Voodoo ist enorm wichtig für die haitianische Gesellschaft, der Alltag ist damit durchdrungen, wobei mir noch immer vieles rätselhaft ist. Die uns bekannten Zeremonien mit Hühnerblut und Leuten, die die Augen verdrehen und zusammenklappen, sind zwar auch Voodoo, aber nur ein kleiner Teil davon. Oft manifestiert sich der Kult bei ganz kleinen Sachen im Alltag, das interessiert mich viel mehr als spektakuläre Riten. Zum Beispiel das Verhältnis zum Geld. In Haiti wird überall auf der Straße gespielt. Wie das vor sich geht, hat viel mit Voodoo zu tun." Der amerikanische Fernsehprediger Pat Robertson ließ sich sogar dazu verleiten, den "Pakt mit dem Teufel" als Grund für eine "Strafe Gottes" zu bezeichnen. Er berief sich damit auf einen Bericht, nach dem die Bevölkerung 1791 diesen Pakt geschlossen habe, um von den französischen Kolonialherren befreit zu werden. Das sagte der 79-Jährige im Fernsehsender "Christian Broadcasting Network (CBN).
Nachbeben gesellschaftlicher Art
Das Kinderhilfswerk "Terre des hommes" hat angesichts der großen Zahl verwaister Kinder in Haiti vor der Gefahr von Kinderhändlern und Schleppern gewarnt. Tausende traumatisierte oder verwaiste Kinder irrten derzeit allein durch die Straßen. Haiti hat als ärmstes Land Amerikas auch eine der jüngsten Bevölkerungen der Welt – etwa 40 Prozent der Einwohner sind Statistiken zufolge jünger als 15 Jahre. Der Nachrichtensender CNN berichtete, in dem Land lebten schon vor dem Erdbeben rund 380.000 Waisenkinder. Jedes Jahr werden Tausende Kinder aus Haiti von ausländischen Eltern adoptiert, was dem Land bereits den Vorwurf einbrachte, Kinderhandel zu betreiben. Experten berichten zudem, dass Plünderung und Gewalt schon vor der Katastrophe "zum haitianischen Alltag" gehörten, nun jedoch zunähmen.
US-Außenministerin Hillary Clinton sprach von einer "biblischen Tragödie" in Haiti. Auch US-Präsident Barack Obama sah die Not, die sich auch existentiell unter den Menschen breit macht und ein Fragen nach Gott durchdrängen lässt. Seine Antwort ist, wie gewohnt, ganz irdisch: "Ihr schaut zum Himmel und fragt euch, ob ihr verlassen wurdet. Ich sage den Menschen in Haiti mit großer Klarheit: Ihr seid nicht verlassen worden, ihr werdet nicht vergessen. In dieser Stunde eurer größten Not steht Amerika euch bei." (pro)