„Berufung 3.0: Kongress für Menschen in der dritten Lebensphase“. So hat der Gnadauer Verband den Kongress genannt, der am Wochenende im nordöstlichsten Zipfel Hessens zum ersten Mal stattfand. „Weite finden und vorwärts leben“, haben die Veranstalter als Untertitel gewählt. Mit über 750 Teilnehmern ist die Resonanz stark. So stark, dass die Teilnehmerliste aus Kapazitätsgründen geschlossen werden musste.
Der Kongress richtete sich an die Generation der sogenannten Babyboomer: die geburtenstarken Jahrgänge zwischen 1950 und 1965. Sie beschäftigen sich mit der Frage: „Was ist meine Berufung für die dritte Lebensphase?“ Damit scheint Gnadau einen Nerv getroffen zu haben. Viele Teilnehmer erzählen, dass sie noch nicht lange in Rente sind oder dass dieser Schritt bevor steht.
Genau in dieser Lebensphase überlegen viele, welche Perspektive ihr Leben hat und was noch geht: in ihrem Christsein und in der Gemeinde. In den Tagen in Willingen ging es in den Seminaren, im Plenum und in den Gesprächen während der Mahlzeiten oft darum, sich über eigene Perspektiven auszutauschen und sich zu ermutigen, die eigene Komfortzone zu verlassen.
„Lauter wunderbare Menschen“
Genau hier setzte der Kongress an. Er sollte den eigenen Glauben stärken und dafür sorgen, dass das Denken an Weite gewinnt, wie es Generalsekretär Frank Spatz formuliert. Im ersten Plenum ging es zunächst darum, sich gegenseitig wahrzunehmen. Welche Altersgruppe ist vertreten und von wo haben sich die Menschen auf den Weg nach Willingen gemacht? „Hier sind lauter wunderbare Menschen“, fasste Moderatorin Elke Simon die kurze Vorstellungsrunde zusammen.
Was in den drei Tagen klar wurde: Die Boomer-Generation hat eine Schlüsselaufgabe. Sie sollen die jüngere Generation durch die aktuelle Zeit begleiten, statt auf Mallorca, mit dem Wohnmobil oder im Schrebergarten zu verschwinden. Steffen Kern, Präses des Gnadauer Gemeinschaftsverbands, sprach das im Plenum offen an. In einer Welt, die scheinbar aus den Fugen gerate, gehe es darum, Verantwortung zu übernehmen – mit Intuition und Inspiration: „Gottes Berufung ist ausgesprochen. Welche nehme ich für mich an?“, fragte er.
Der christliche Glaube befreie zu einem hoffnungsvollen Leben. Die „GenZ“ warte auf Boomer, aber nicht als Besserwisser, sondern als Begleiter. Eine ähnliche Botschaft sendete auch Pfarrerin Astrid Eichler, selbst erst seit Kurzem im Ruhestand: „Wir haben einen Gott, der uns will – unabhängig von Alter und Lebensumständen.“ Als mögliches Rezept für ein sinnvolles Leben empfahl sie die Dankbarkeit. „Lasst uns rausfinden, worauf Gott mit uns Lust hat. Wenn wir Menschen sind, die sich auf den Himmel freuen, können wir mit einem weiten Herzen alt werden.“
Mit 50 Jahren die Komfortzone verlassen
Die Veranstaltung hatte einen gewissen Promi-Faktor. Vertreter der christlichen Szene waren unter anderem der Psychiater und Bestsellerautor Manfred Lütz, der Theologe Hans-Joachim Eckstein, die Pfarrerin und Gefängnisseelsorgerin Astrid Eichler und der Mutmacher Johannes Warth. Es waren aber auch die über zwanzig Seminare und Workshops, die Impulse setzten und die zeitgemäße Musik, die zum Mitsingen einlud.
So durften die Teilnehmer in einem Seminar die Arbeit der Österreicherin Wilbirg Rossrucker kennenlernen. Sie verließ mit 50 Jahren ihre Komfortzone verlassen, um in Stuttgart die Leitung des Hoffnungshauses zu übernehmen. Hier kümmert sie sich um Prostituierte in der Stadt. Dass sie dort ihre richtige Berufung gefunden hat, hörte man schon, nachdem sie zwei Minuten davon erzählt hatte.
Wichtig war den Veranstaltern auch die Sicht der jungen Generation. Die Jugendreferenten des Verbandes „Entschieden für Christus“ (EC), Johanna Schwarz und Felix Padur, wünschten sich die Babyboomer als Vorbilder und halten ihnen einen Spiegel vor: „In eurer Generation fallen Menschen auf, die versöhnt sind und ein weiches Herz haben.“ Gerade deswegen sei die Versöhnung mit der eigenen Vergangenheit und sich selbst so wichtig. Im Vertrauen auf Jesus Christus sei das möglich.
Als Gemeinden flexibel sein
Auch in den Gemeinden träfen Generationen aufeinander. „Die Qualität des Umgangs macht die Musik, ob das Miteinander der Generationen gelingt. Begegne ich dem anderen in der Gemeinde als Person oder sehe ich nur dessen Nutzen?“, fragte Rene Winkler in seinem Seminar. „Wir müssen als Gemeinden flexible Modelle entwickeln, damit Menschen Verantwortung übernehmen können.“
Kabarettistisch näherte sich der Psychiater und Bestsellerautor Manfred Lütz am Freitagabend dem Thema. In seinem 90-minütigen Vortrag warnte er vor den Glücksversprechen vieler Ratgeber: „Der einzige Experte, der für dein Leben wirklich kompetent ist, bist du selbst.“ Die Grenzsituationen des Lebens seien für alle unvermeidlich. Deswegen käme es vor allem im Alter darauf an, Sinn und Hoffnung zu haben.
Mit der kirchlichen Verkündigung beschäftigten sich der Theologe Hans-Joachim Eckstein und der Heilpädagoge Markus Müller. „Dort, wo das ganze Evangelium verkündet wird, werden die Kirchen und Hallen voller“, zeigte sich Eckstein überzeugt. Er halte es für falsch, Abstriche am christlichen Bekenntnis mache, um moderne Menschen besser ansprechen zu können: „Wir sollten nicht kleiner von Christus reden, sondern größer.“
Motor einer Pro-Aging-Bewegung sein
Müller regte eine Neuausrichtung der kirchlichen Verkündigung an. Die meisten Menschen sehnten sich nach Entwürfen, wie das Leben gelinge, aber nicht unbedingt danach, wie der Glauben gelinge. Er forderte die Kongressteilnehmer dazu auf, eine positive Sicht des Alters zu gewinnen: Es gelte, vom „Anti-Aging zum Pro-Aging“ zu finden. Der Gnadauer Verband könne hier ein Motor dieser Bewegung sein.
Für den Ermutiger Johannes Warth ging es in seinen kurzen „Einwürfen“ im Plenum immer wieder darum, positiv nach vorne zu sehen. „Hätte, hätte, Fahrradkette“ sei eine schlechte Grundhaltung. Wer verpassten Chancen hinterher trauere, verpasse ein erfülltes Leben in der Gegenwart. Es gelte, jeden Morgen mit einem hoffnungsvollen Grundsatz in den Tag zu starten, dankbar zu sein und unbefangen Neues anzufangen.
Christiane Rösel und René Winkler gestalteten am Sonntagvormittag eine Sendung ihres Podcasts „Vorwärts leben“, der sich dezidiert an die Zielgruppe des Kongresses richtete. Die Folge des Live-Formats ist überall zu hören, wo es Podcasts gibt.
„Wollen nicht betreut werden, sondern sich einbringen“
Vor zwei Jahren hatten die Veranstalter mit den ersten Planungen des Kongresses begonnen. In den Mitgliedsverbänden hatten Haupt- und Ehrenamtliche den Bedarf für dieses Thema gesehen. Der Evangelische Gnadauer Gemeinschaftsverband versteht sich als Hoffnungsbewegung im Raum der Kirchen, in rund 90 Mitgliedswerken. Dort engagieren sich 40.000 ehrenamtliche und 7.000 hauptamtliche Mitarbeiter.
Ein Bruchteil von ihnen war in Willingen zu Gast. Und für sie steht fest, dass sie nicht betreut werden wollen, sondern sich einbringen möchten. Das ist ein großer Schatz für die christlichen Gemeinden. Und eigentlich dürfte nach dem Kongress klar sein, dass er fortgesetzt werden muss. Denn er hat einen Nerv der Zeit getroffen. „Es war ein begeisterndes Treffen mit vielen geistreichen Impulsen, berührenden Momenten und herzhaftem Lachen“, bilanziert am Sonntag auch Generalsekretär Frank Spatz.