In den Siebzigerjahren war Aretha Franklin bereits als Queen of Soul weltbekannt. Obwohl die erste LP der 2018 verstorbenen Sängerin ein Gospelalbum war, bescherte ihr erst ihre Popmusik Berühmtheit. Sie hätte es also wahrlich nicht nötig gehabt, zur Kirchenmusik zurückzukehren – und tat es doch. 1972 nahm sie gemeinsam mit dem Southern California Community Choir und Reverend James Cleveland in der New Temple Missionary Baptist Church in Los Angeles ihr Album „Amazing Grace“ auf. Eine gleichnamige Dokumentation, die bereits bei der Berlinale im Februar in Deutschland zu sehen war, zeigt nun Filmmaterial dieser bewegenden zwei Abende. Das Werk von Alan Elliott beschreibt eine nahbare und vom Glauben tief bewegte Aretha Franklin, ist aber auch Zeitdokument des Kampfes um Gleichberechtigung der schwarzen US-Bevölkerung.
„Wie viele von euch lieben Gott?“
Nur einige hundert Gäste passen in die schwarze Baptistenkirche, die an den zwei Abenden der Aufnahme jenes Albums, das einmal die erfolgreichste Gospel-LP aller Zeiten werden sollte, bis auf den letzten Platz gefüllt ist. Auch Prominente fanden sich unter den Zuhörern: Die Kamera fängt immer wieder Rolling-Stones-Sänger Mick Jagger ein. Als zunächst der Gospelchor und anschließend Aretha Franklin selbst den Saal betreten, glaubt man seinen Augen kaum: Beinahe schüchtern nimmt der Weltstar am Klavier Platz, der Chor sitzt auf einfachen braunen Holzstühlen. Keine Special Effects, kein schwarzer Vorhang, keine Bühne, kein roter Teppich. Alles an dieser Kulisse ruft: Wir feiern nun einen Gottesdienst, Starrummel ist unerwünscht.
Die wenigsten deutschen Kinozuschauer dürften Aretha Franklin je live erlebt haben, wer aber „Amazing Grace“ sieht, bekommt ein Gefühl dafür, wie das gewesen sein muss. Diese einzigartige Stimme erfüllt sogar vom Band den Kinosaal und je weiter das Konzert voranschreitet, desto emotionaler und drängender werden ihre Botschaften: „What a friend we have in Jesus“, singt sie, „How I got over“ oder „Never grow old“.
„Wie viele von euch lieben Gott?“, fragt Reverend Cleveland zwischendurch. Dutzende Hände schnellen in die Höhe – auch die von Franklin. Spätestens bei ihrer Langversion von „Amazing Grace“, die sie fast allein singt, erwartet man, dass auch das Kinopublikum begeistert aufspringt und laut „Halleluja“ ruft. Es ist die Stärke dieses Films, dass er einfach geschehen lässt, was geschehen ist. Ohne Kommentierung. Nur Franklin, ihr Ensemble und ein mehrheitlich göttlich-beseeltes Publikum.
Auch eine Mahnung an das Amerika im Jahr 2019
Da werden Hände in die Höhe gereckt, Gebete gesprochen, einige verlieren sich in tranceähnlichem Tanz, andere klatschen, als ginge es um ihr Leben – und es wirkt noch nicht einmal seltsam. Ein unprätentiöser Star, eine authentische Kirche und ganz viel Seele sorgen dafür, dass dieser Gottesdienst auch 47 Jahre später bei einem eher kirchenfernen Publikum ankommen kann, es vielleicht sogar zu bewegen vermag. „Sie hat die Kirche nie verlassen“, sagt Franklins Vater gegen Ende des Konzerts ins Mikrofon. Überflüssige Worte, jeder Zuschauer hat das zu diesem Zeitpunkt bereits begriffen. Franklin singt hier nicht nur für ihr Publikum. Ihr Auftritt ist mehr. Eine Verbeugung vor Gott und auch eine Erinnerung an den Freiheitskampf der Schwarzen in den USA, wie Cleveland an einer Stelle erklärt. Es liegt in der Natur der Gospelmusik, beide Botschaften zu transportieren. „Amazing Grace“, Film wie Lied, sind auch eine Mahnung an das Amerika im Jahr 2019.
„Gebt dem Geist Raum“, bittet Reverend Cleveland das Publikum zu Beginn der Aufnahme. Was folge, sei schließlich eine religiöse Veranstaltung. Für die weniger Gläubigen hat er ebenfalls eine Handlungsanweisung: „Tut einfach das Nächstbeste.“ Es ist, als spräche er auch zum Kinopublikum. Denn einen Gottesdienst erleben Filmfans eher selten – zumindest von der Leinwand herab. Da kann etwas Anleitung nicht schaden.
„Amazing Grace“, Alan Elliott (mit Originalmaterial, 1972, Warner Bros.), 2019, 87 Minuten, Kinostart: 28.11.2019