Die Tücken des positiven Denkens

In der Welt der sozialen Medien gewinnt das Konzept der Manifestation an Popularität: Influencer versprechen, durch positive Gedanken ein erfülltes Leben zu schaffen. Experten warnen jedoch vor Risiken unrealistischer Erwartungen.
Von Petra Kakyire
Zwei Hände, die eine leuchtende Lichterkette hochhalten

Wenn du deine Wünsche an das Universum sendest, dann verdienst du das. „Was auch immer du denkst, zu verdienen, das bekommst du auch“, sagt eine junge Frau in einem Video auf Tiktok. Neben Lifestyle- und Beautytipps gibt sie unter dem Nutzernamen Jihoon ihren 2,3 Millionen Followern Einblicke in ihre Manifestationsmethoden. Alles, was sie in ihrem Leben erreichen wolle, manifestiere sie. Dabei sei es nicht primär wichtig, die Wünsche aufzuschreiben, sondern die Gedanken zu ändern. Je optimistischer und positiver man bleibe, desto mehr ziehe man die guten Dinge im Leben an, heißt es in dem Video von Jihoon. Das Wort „manifestieren“ stammt aus dem Lateinischen. Es bedeutet „offenbaren“. Durch gezielte Gedanken sollen Ziele und Wünsche in die Realität umgesetzt werden. Es geht darum, fest daran zu glauben, dass etwas geschehen wird. Wie Jihoon teilen unzählige Menschen ihre Erfahrungen damit in sozialen Medien. Manifestation ist zu einem Trend geworden.

Der Theologe Manuel Schmid ist Pastor einer evangelischen Freikirche und Co-Leiter der Online-Plattform „reflab.ch“ der Reformierten Kirche Zürich. Er erklärt im PRO-Interview, wie sich Manifestieren als Trend aus den USA über Social Media verbreitet hat und warum er es für problematisch hält. „Manifestieren ist eigentlich eine Neuauflage des positiven Denkens, das vor Jahrzehnten in den USA große Wellen geschlagen hat“, erklärt Schmid. Ein Trend, der verspricht, durch positive Gedanken und den Glauben an die eigenen Wünsche ein Traumleben zu erschaffen. Ob Geld, beruflicher Erfolg oder die große Liebe – das Universum soll diese Wünsche wie auf Bestellung erfüllen. Außerdem basiert Manifestieren auch auf dem „Gesetz der Anziehung“. Das besagt, dass positive Gedanken positive Erfahrungen anziehen. Alles im Universum hat eine Schwingung und Gleiches zieht Gleiches an, heißt es in einem Manifestationskonzept der Coachin Laura Malina Seiler. „Es wird nicht mehr nur gebetet, sondern so gelebt, als ob man es schon empfangen hätte“, erklärt Schmid. Verschiedene Techniken wie Vision Boards, Tagebuchschreiben und positive Affirmationen unterstützen diesen Prozess.

Manifestation als Geschäftsmodell

„Früher war das vor allem ein Konzept in Büchern oder Predigten, heute ist es ein Social-Media-Phänomen“, sagt Schmid. Influencer wie die spirituelle Coachin Laura Malina Seiler, die auf Instagram über 400.000 Follower hat, sind mittlerweile bekannte Gesichter des Manifestationstrends. Sie bietet auf ihrer Website Kurse und Workshops an, die Menschen helfen sollen, ihre Ziele zu manifestieren. Schmid weist darauf hin, dass dieses Konzept stark von den sozialen Medien befeuert wird. Influencer präsentieren dort ihre eigenen Erfolgsgeschichten und zeigen, wie sie durch Manifestieren ihre Ziele erreicht haben – für viele eine verlockende Vorstellung.

Doch hinter den glitzernden Bildern auf Instagram und Tiktok verbergen sich auch ernste Risiken, die oft übersehen werden. Schmid weist auf die Gefahr hin, dass die ständige Fokussierung auf das Positive dazu führen kann, dass Menschen ihre eigenen negativen Gefühle und realen Probleme verdrängen. „Es wird suggeriert, dass es nur um positive Gedanken geht – doch das ist eine Form der Realitätsverleugnung“, sagt er.

Manifestation kann der Psyche schaden

In der SWR-Reportage „Gefährliches Wunschdenken? Der Hype um Manifestation“ untersucht die Reporterin Carina Parke den Hype um Manifestation. Sie hinterfragt den Trend und die Grundvoraussetzung einer positiven Grundeinstellung. „Wo hört eine positive Grundeinstellung auf und wo fängt Pseudowissenschaft an?“, fragt die Journalistin. Bisher gebe es keine Studien, die belegen, dass Manifestation wirkt, erklärt sie. Viele Menschen, die an Manifestation glauben, investierten riskant in ihre Wünsche, was zu finanziellen Schwierigkeiten führen könne, heißt es in der Reportage. Die Psychologin Gabriele Oettingen warnt vor negativen psychischen Folgen, wenn man sich ständig nur auf positive Gedanken konzentriere. Man könnte sich mit anderen vergleichen, denen es gelingt, ihre Wünsche in die Tat umzusetzen, und sich fragen: Warum klappt das bei mir nicht? Dies beeinflusse das Selbstwertgefühl. Das könne zu Hilflosigkeit und Depressionen führen, vor allem, wenn sich Menschen isoliert fühlen, erklärt Oettingen. Diese bräuchten professionelle Hilfe – oder Freunde, sagt Oettingen.

Besonders problematisch wird es, wenn Menschen ihre finanziellen Mittel in diese Ideen stecken und sich verschulden. Schmid, der sich intensiv mit Manifestation und ihren Auswirkungen beschäftigt hat, kennt viele Beispiele von Personen, die sich aufgrund dieser Ideen finanziell übernommen haben, „im Glauben, das Universum werde ihre Wünsche erfüllen“, sagt Schmid im Interview.

Er weist auf eine weitere problematische Dimension hin: die Verbindung von Manifestation mit religiösen und spirituellen Überzeugungen. In vielen christlich geprägten Bewegungen, insbesondere innerhalb der pfingstlich-charismatischen Szene, werde Manifestation als eine Form des „Proklamierens“ oder „Materialisierens“ von Wünschen verstanden. Schmid, der als Dozent Homiletik (Predigtlehre), Kommunikationstheorie und Gesellschaftshermeneutik unterrichtet, kennt diese Praktiken aus eigener Erfahrung: „Ich habe das schon erlebt, lange bevor es als Manifestation bekannt wurde. In diesen Kreisen wurde gesagt, du musst dir das Auto, den Job oder die Gesundheit einfach nur vorstellen und dann wird es dir vom Herrn gegeben.“

Gott ist kein Zaubermittel für Erfolg

Das Konzept der Manifestation ist nicht nur eine spirituelle Modeerscheinung, sondern auch ein Thema, das eng mit dem christlichen Glauben verbunden ist. „Die Idee, dass das Universum unsere Wünsche erfüllt, erinnert stark an die christliche Vorstellung von Gottes Gaben“, erklärt Schmid. Das Problem liegt dabei oft in der Verzerrung des Glaubens: Statt um eine Verbindung zu Gott, einen göttlichen Plan oder einen höheren Sinn des Lebens geht es bei der Manifestation oft nur noch um das, was der Einzelne für sich haben will. Diese materialistische Sichtweise führt dazu, dass der Glaube auf das persönliche Glück und die Erfüllung individueller Wünsche reduziert wird.

Schmid kritisiert diese Vorstellung. In vielen charismatischen Gemeinden werde, laut Schmid, der Glaube als eine Art „magisches Werkzeug“ verstanden, um Wohlstand und Erfolg zu manifestieren. Dieser Ansatz sei jedoch gefährlich und widerspreche der christlichen Tradition, in der es nicht um persönlichen Gewinn, sondern um die Beziehung zu Gott gehe. „Der christliche Glaube dreht sich nicht um etwas, was Gott für uns abwirft, sondern um die Verbindung zu einer Person, nämlich Gott“, betont Schmid. Die Aufgabe der Kirchen könnte darin bestehen, den Menschen die wahre Botschaft Gottes zu verkünden. Nämlich, dass er der Retter ist, trotz schwieriger Umstände. „Gott ist tatsächlich ein Begleiter von Menschen in Nöten, der sogar über den Tod hinaus eine Sicht und eine Perspektive für unser Leben hat“, sagt Schmid. Manifestationen, wenn sie richtig eingesetzt werden, können positive Auswirkungen haben. Die Kraft der Gedanken allein reicht jedoch nicht aus, um Ziele zu erreichen. Dafür müssen Menschen sowohl an ihre Wünsche glauben als auch konkrete Schritte unternehmen, um sie zu verwirklichen. Christen dürfen sich und ihre Pläne Gott anbefehlen und auf seine Führung vertrauen. In einer Welt, in der Manifestation durch soziale Medien populär geworden ist, ist es wichtig, Balance und Realismus zu bewahren. Dazu gehört es auch, zu akzeptieren, dass manche Wünsche Wünsche bleiben.

Dieser Artikel erschien zuerst in Ausgabe 1/2025 des Christlichen Medienmagazins PRO. Sie können die Ausgabe hier kostenlos bestellen.

Helfen Sie PRO mit einer Spende
Bei PRO sind alle Artikel frei zugänglich und kostenlos - und das soll auch so bleiben. PRO finanziert sich durch freiwillige Spenden. Unterstützen Sie jetzt PRO mit Ihrer Spende.

Ihre Nachricht an die Redaktion

Sie haben Fragen, Kritik, Lob oder Anregungen? Dann schreiben Sie gerne eine Nachricht direkt an die PRO-Redaktion.

PRO-App installieren
und nichts mehr verpassen

So geht's:

1.  Auf „Teilen“ tippen
2. „Zum Home-Bildschirm“ wählen