Die Tiktok-Herausforderung

Eigentlich ist es nur eine App, die auf dem Handy kurze Videos abspielt. Doch für viele Jugendliche ist es der Informationskanal, das Fenster zur Welt. Kritiker warnen: Tiktok spioniert, verdummt, radikalisiert und gefährdet sogar Menschenleben.
Von Jörn Schumacher
Tiktok, Handy, App

Vielleicht ist es eine Generationen-Frage: Für Menschen über 30 mag Tiktok nur ein Haufen oberflächlicher Videos von unnatürlich geschminkten oder muskulösen Personen sein, mit viel Tanzerei, lächerlichen Streichen an unbeteiligten Passanten („Pranks“), und fast immer plärrt nervige Musik, dazwischen gibt es politische Aufrufe und Werbung. Für junge Leute aber ist es das Hauptmedium. Über eine Milliarde Nutzer hat die Kurzvideo-App weltweit, längst hat sie andere soziale Medien wie Youtube, Twitter, Instagram oder Facebook hinter sich gelassen.

Hinter Tiktok steht das chinesische Unternehmen „ByteDance“, und wie die meisten chinesischen Unternehmen steht es unter direktem Einfluss der Kommunistischen Partei Chinas. Das heißt: Die Firmenchefs achten sehr genau darauf, was die Partei und Staatspräsident Xi Jinping wünschen, und was nicht. Es ist bekannt, dass die Inhalte von Tiktok zensiert werden, viele Videos werden gar nicht erst angezeigt, die für die Parteiführung als „vulgär“ gelten (darunter fallen wohl auch dicke oder queere Menschen) oder den „sozialistischen Grundwerten“ widersprechen. Die Vorfälle auf dem Platz des Himmlischen Friedens etwa, als 1989 das chinesische Militär gewaltsam gegen friedliche Demons­tranten vorgegangen war, wird man auf Tiktok schwer verbreiten können, ebenso Themen rund um die Konflikte mit Tibet und Taiwan, die Verfolgung der uigurischen Minderheit sowie die Proteste in Hongkong. Es gibt Fälle, in denen Tiktok Konten gesperrt hat, auf denen diese Themen auch nur erwähnt wurden.

20.900.000 Menschen in Deutschland nutzen TikTok jeden Monat.

(Quelle: Tiktok, 2023)

Aufgrund der engen Verbindung zum chinesischen Staat und aus Gründen des Datenschutzes wurde Tiktok 2020 in Indien verboten; seit 2023 darf in Frankreich Tiktok nicht mehr auf den Dienst-Mobiltelefonen in Ministerien und Ämtern installiert sein; ebenfalls seit 2023 dürfen Mitarbeiter der EU-Kommission die Tiktok-App nicht mehr nutzen, dasselbe gilt für Abgeordnete in Großbritannien, Frankreich, Norwegen, Belgien, Dänemark. Bereits der damalige US-Präsident Donald Trump wollte 2020 Tiktok in den USA verbieten, da er die nationale Sicherheit gefährdet sah. Ein Gericht entschied, dass das unzulässig sei. Das Parlament des US-Bundesstaates Montana stimmte im vorigen Jahr dennoch für ein komplettes Verbot von Tiktok. Auch unter Präsident Joe Biden verabschiedete das US-Repräsentantenhaus im März 2024 einen Gesetzentwurf mit dem Ziel, Tiktoks US-Sparte von seinem chinesischen Mutterkonzern abzuspalten. Denkbar ist der Zwang zum Aufkauf durch Konzerne wie Apple und Google.

Tiktok-Abstinenz tut gut

Doch immer wieder steht Tiktok auch wegen der Inhalte in der Kritik. Das Schönheitsideal, das in zahlreichen Videos propagiert wird, schade der psychischen Gesundheit, sagen Experten. Die Mediensucht bei Kindern und Jugendlichen in Deutschland hat sich nach der Corona-Pandemie deutlich verändert, zeigte eine Studie der Krankenkasse DAK. Demnach nutzen knapp 25 Prozent der Minderjährigen soziale Medien „riskant“ oft – dreimal so viele wie im Jahr 2019. Der Studie zufolge verbringen Kinder und Jugendliche an einem normalen Wochentag durchschnittlich 150 Minuten in sozialen Netzwerken, am Wochenende sind es 224 Minuten. Mädchen und Jungen mit einer problematischen Social-Media-Nutzung sind häufiger von depressiven Symptomen, mehr Ängsten und einem höheren Stresslevel betroffen als andere Nutzerinnen und Nutzer.

30 Prozent der 14- bis 29-Jährigen nutzen TikTok jeden Tag.

(ARD-ZDF-Onlinestudie, 2023)

Forscher der York University in Toronto, Kanada, fanden heraus, dass schon eine Woche Social-Media-Pause das Selbstwertgefühl und eine positive Einstellung zum eigenen Körper bei jungen Frauen signifikant fördert. Ganz zu schweigen von der Verbreitung von Hass und Hetze. Der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, Josef Schuster, bezeichnete Tiktok als „größten Raum für Antisemitismus im Netz“.

Immer wieder sorgen zudem auf Tiktok verbreitete „Challenges“ (Herausforderungen) für Entsetzen – das sind geschmacklose und teilweise tödliche Trends, die Jugendliche für ein paar Klicks mitmachen und Videos davon posten. Da gibt es harmlose oder sogar gemeinnützige Aufrufe – wie das Sammeln von Geld für einen guten Zweck (zum Beispiel die „Chalk your Walk Challenge“ – wo man Gehwege mit bunter Kreide bemalt). Aber bei der „Deo Challenge“ etwa sprühen sich die Teilnehmer mit einem Deo in den Mund; es drohen Erfrierungen und Schädigung der Atemwege. Wer bei der „Tide Pod Challenge“ mitmacht, muss flüssige Waschmittelkapseln essen. Für die „Blackout Challenge“ würgen sich die jungen Menschen absichtlich, um einen Rauschzustand zu erleben. Bei der „Blue Whale Challenge“ müssen die Teilnehmer über 50 Tage hinweg Aufgaben erfüllen, es gipfelt in Selbstverletzung oder Selbstmord.

13.400.000.000 Videoaufrufe verzeichnet Tiktok pro Monat in Deutschland.

(basicthinking.de)

Ein Drittel der Challenge-Videos waren potenziell schädlich, und ein Prozent potenziell tödlich, ergab eine Studie der Medienanstalt NRW. Zuletzt ging auf Tiktok ein angeblicher „Nationaler Vergewaltigungstag“ viral: Der 24. April sei der Tag, an dem sexuelle Übergriffe straflos bleiben würden, hieß eine Nachricht, die sich in Windeseile verbreite. Natürlich war das eine Falschmeldung.

Der Kanal zu jungen Wählern

Wie kaum eine andere Partei in Deutschland hat die AfD die Bedeutung von Tiktok erkannt. Im Schnitt bekamen Tiktok-Nutzer die Videos des offiziellen Kanals der AfD-Bundestagsfraktion zwischen Januar 2022 und Dezember 2023 je 430.000 Mal zu sehen. Die FDP kam auf rund 53.000 solcher Impressions, die restlichen Parteien lagen noch weiter zurück. Der kürzlich geschasste AfD-Spitzenkandidat bei der Europawahl, Maximilian Krah, stellte ein Kurzvideo auf Tiktok mit dem Inhalt: Wer rechts ist, bekommt auch eine Freundin. Über 1,4 Millionen Aufrufe hatte der Clip. Tatsächlich steigt die Partei vor allem in der Gunst junger Menschen. Die Studie „Jugend in Deutschland 2024“ des Jugendforschers Simon Schnetzer zeigte im April 2024: 22 Prozent der 14- bis 29-Jährigen würden bei einer Bundestagswahl ihr Kreuz bei der AfD machen. 2022 waren es noch 9 Prozent.

Nach und nach bemühen sich Politiker auch der anderen Parteien, mehr auf Tiktok präsent zu sein. Gesundheitsminister Karl Lauterbach und Bundeskanzler Olaf Scholz (beide SPD) gingen voran, mittlerweile verdeutlicht auch Wirtschaftsminister Robert Habeck dort seine Ziele in Kurzvideos. Die schmale Grenze zwischen der Gefahr, sich lächerlich zu machen, und dem Anliegen, junge Menschen für die eigene Politik zu begeistern, muss hier jeder selbst ausloten. Der Kanzler setzt auf Begegnungen mit bekannten Tiktokern und Storys über das Leben seiner Aktentasche. Er ließ beim Start des Kanals allerdings verlautbaren: „Ich tanze nicht. Versprochen.“ Andere Politiker sprechen ohne viel Tamtam über politische Themen, fast so wie sie es bei einem erwachsenen Publikum tun würden.

„Tiktok passt seine Inhalte weltweit den Maßstäben der chinesischen Diktatur an.“

Internetexperte Sascha Lobo

„Social Media hat eine größere Transparenz gebracht“, ist der Internet-Experte Sascha Lobo überzeugt. In einer Sendung von „Hart aber fair“ zum Thema im Frühjahr bezog er dies explizit auch auf Tiktok. „Der Austausch zwischen dem ‚Planeten Politik‘ und der Bevölkerung ist einfacher geworden.“ Tiktok sei enorm wichtig für die Meinungsbildung, weil es das „wichtigste, interessanteste Instrument in der digital-sozialen Öffentlichkeit“ sei. Dass die AfD dort erfolgreich ist, habe eher mit der typischen Bedienung populistischer Werkzeuge zu tun, die auf allen Social-Media-Plattformen verwendet würden, so Lobo, das sei kein spezielles Phänomen von Tiktok.

Social Media in der Form von Tiktok kann Spaß machen und informativ sein. Laut einer Umfrage des Bundesverbandes Digitalpublisher und Zeitungsverleger (BDZV) halten bereits 63 Prozent der 16- bis 19-Jährigen Video-Plattformen wie Youtube und Tiktok für „unverzichtbar für freie Meinungsbildung“. Wie bei jedem Medienkonsum ist jeder Nutzer auch hier selbst aufgerufen, das gesunde Maß zu finden. Und kritisch zu bleiben. Vielleicht besteht eine der wichtigsten Challenges für Kinder und Jugendliche in der „Tiktok-Challenge“: möglichst lange ohne Tiktok auskommen. Vielleicht wandert das Problem ja aber ohnehin von selbst bald weiter. Plattformen, die eine Zeit lang geradezu unverzichtbar im Leben der Nutzer zu sein schienen, sind heute verlassene Orte. Ob „Knuddels“, „StudiVZ“, „Myspace“, „Werkenntwen“ oder Facebook – Nutzer ziehen weiter. Tick-tack, der Zahn der Zeit wird irgendwann auch an Tiktok nagen.

Dieser Artikel erschien zuerst in Ausgabe 3/2024 von PRO – das christliche Medienmagazin. Sie können das Magazin hier kostenlos bestellen.

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