Die SPD ist im freien Fall. Laut dem neuesten Wahltrend von Spiegel Online ist sie dem Boden, nämlich Null Prozent, näher als den Umfragewerten der Union. Nur noch 16,4 Prozent der Wähler wollen ihre Stimme den Sozialdemokraten geben, gegenüber 33,3 Prozent des möglichen Koalitionspartners. Schuld daran ist vor allem die SPD selbst.
Es ist noch kein Jahr her, da krönte die SPD Martin Schulz zu ihrem Spitzenkandidaten. Prompt zog sie in Umfragen mit CDU/CSU gleich. Sagenhafte 100 Prozent der SPD-Delegierten wählten den Europapolitiker zum Parteichef. Siegessichere Parteifunktionäre umringten ihn wie einen Popstar. Vom „Schulz-Effekt“ war die Rede, vom „Gottkanzler“, dem Heilsbringer der Sozialdemokratie, dessen unstoppable Schulzzug keine Bremsen habe.
Es folgte eine beispiellose Reihe von Fehlern und Missverständnissen. Freudetaumelnd versäumten es die Genossen viel zu lange, ein Programm zu entwerfen. Angriffe auf Merkel blieben entweder aus oder prallten an ihr ab, Schulz hörte zu häufig auf schlechten Rat, verlor das TV-Duell und konnte am Ende nur noch versuchen, einigermaßen erhobenen Hauptes eine Niederlage einzustecken. Schroff, fast respektlos reagierte er am Wahlabend auf das Ergebnis, schloss mit Unterstützung des Parteivorstandes umgehend eine erneute Große Koalition aus. Außerdem versprach er, nicht in ein Merkel-Kabinett eintreten zu wollen.
Die SPD gleicht einem Hühnerhaufen ohne Hahn
Beide Versprechen landeten im Müll. Das erste, nachdem Staatsoberhaupt Frank-Walter Steinmeier seiner SPD ins Gewissen geredet hatte, das zweite, weil Schulz sich in ein ihm angemessenes Amt retten wollte. Der Fraktionsvorsitz war schließlich bereits an Andrea Nahles vergeben, die zudem Parteichefin werden soll. Der gechasste Außenminister Sigmar Gabriel war außer sich, warf Schulz Wortbruch vor und war sich nicht zu schade, ein Zitat seiner Tochter über Schulz ins Spiel zu bringen, die ihn als „Mann mit Haaren im Gesicht“ bezeichnete, ein Satz, den Gabriel mittlerweile immerhin bereut. Die SPD-Basis reagierte ebenfalls empört. Landes- und Kreisverbände drohten Schulz mit öffentlichen Rücktrittsforderungen, sollte der seine Karrierepläne nicht umgehend aufgeben. Der Parteivorstand hängte sein Fähnchen abermals in den Wind und schloss sich der Basis an: Denn wenn Schulz Außenminister würde, würden die SPD-Mitglieder die Große Koalition ablehnen.
Regierungsmacht und sonstige Annehmlichkeiten wären dahin. Schulz lenkte ein, gab später auch den Parteivorsitz ab. Nahles sollte vorübergehend übernehmen. Schon wieder murrte die Basis, also übernahm Olaf Scholz als Stellvertreter die Geschäfte. Als sei nicht schon genug Chaos vorhanden, meldeten sich zwei weitere Bewerber um den Vorsitz. Da passt es gar nicht, dass nun Juso-Chef Kevin Kühnert medienwirksam durch die Lande tingelt und gegen die Groko, gegen die Empfehlung und – zugegeben erfolgreiche – Verhandlungsergebnisse der Parteispitze wirbt. Die SPD gleicht mittlerweile einem Hühnerhaufen ohne Hahn.
Dass es SPD-Politikern vor allem um Dienstwagen und einen großen Mitarbeiterstab geht, ist zwar eine Unterstellung. Doch der bloße Eindruck von Mitnahmementalität und Machtgier verprellt gerade die zentrale SPD-Klientel, Arbeiter und einfache Angestellte. Die gut 16 Prozent aus der letzten Umfrage dürften nicht einmal die Stammwählerschaft sein – ein verheerendes Zeugnis. Das kann niemandem gefallen, denn einem Deutschland ohne die Sozialdemokratie, die sich traditionell für die Schwachen der Gesellschaft einsetzt, würde viel fehlen. Die Mitglieder haben nun die Wahl zwischen weiteren vier Jahren in einer Koalition, derer sie eigentlich überdrüssig sind – und womöglich Neuwahlen, aus denen die SPD erstmals als dritte Kraft hervorgehen könnte. Wer gestern noch über den entgleisten Schulzzug gespottet hat, dem sollte nun das Lachen im Halse stecken bleiben: Die Lage ist ernst.
Von: Nicolai Franz