Filmkritik

Die Religion und der Hass

„Martin liest den Koran“ ist ein Film über die Abgründe von Religion und den Hass auf Glaubende zugleich. Das ist verrückt, herausfordernd, verstörend – und seit Donnerstag im Kino zu sehen.
Von Anna Lutz

Martin ist wütend. So wütend, dass er eine Bombe gebaut hat, die bis zu 50 Menschen töten könnte. Zu Hause ahnen Frau und Kind nichts von seinen Plänen, sie glauben, er sei noch bei der Arbeit, als Martin (Zejhun Demirov) sich auf den Weg macht, um seine grausame Tat zu begehen.

Dennoch nimmt er sich die Zeit für einen Zwischenstopp. Denn eines ist ihm wichtig, bevor er auf den Knopf drückt. Er will wissen, ob der Koran Gewalt wirklich befiehlt. Er will wissen, ob das, was in seinem Kopf bereits wahr ist, glaubhaft von akademischer Seite widerlegt werden kann. Deshalb sucht er einen Professor für Islamwissenschaften (Ulrich Tukur) auf, der nach einem Anschlag vor einem Jahr als Experte in den Medien zu sehen war und stets behauptet: Der Koran befielt niemals Morde. Der Gott der Muslime ist barmherzig.

Ulrich Tukur als Professor, der an einen liebenden muslimischen Gott glaubt

Als die beiden alleine sind, weiht Martin den Professor in seine mörderischen Pläne ein und zwingt ihn zum Gespräch über den Glauben. Sodann beginnt ein Schlagabtausch, der sich gewaschen hat. Die beiden Männer hauen sich Koranstellen um die Ohren, dass dem Zuschauer schwindelig wird. Martin: „Zeigen Sie mir einfach die Sure, in der steht, dass man keine Bombe legen darf!“ Professor: „Es steht auf jeder Seite.“ Und weiter: „Sie lesen nur, was in Ihrem Kopf ist.“

So geht es hin und her, bis die Lage sich dramatisch zuspitzt, Martin droht, die Bombe nun wirklich zu zünden und der Professor mit seinem Ruf nach Hilfe durch Polizei oder Zeugen mehrfach scheitert. Und am Ende, soviel sei verraten, ist in diesem Film alles anders als gedacht.

Achterbahnfahrt auf der Leinwand

„Martin liest den Koran“ ist verstörend und in manchen Szenen brutal. Er ist schonungslos und auch ein wenig verrückt. Das ist wohl der Idee des Regisseurs geschuldet, durch wilde Kamerafahrten und surreale Einschübe das Chaos in Attentäter Martins Kopf zu zeigen. Jurijs Saule gönnt dem Zuschauer inmitten von Korandebatte, der finsteren Ästhetik eines verlassenen Hörsaals und teils blutigen Visionen und Rückblenden keine Atempause.

Kurz sorgt man sich, Saule würde seinen Hauptdarsteller deshalb als irgendwie durchgedreht zeigen, um das Narrativ des Professors im Film plump zu bestätigen: „Das hat nichts mit dem Islam zu tun“. Glücklicherweise macht er es sich dann aber doch nicht so einfach und lässt den Zuschauer stattdessen mit viel Denkstoff zurück: Kann nicht jeder Glaube, sogar der Atheismus, Böses hervorbringen? Was nützt alle Theologie, alles Expertenwissen, wenn Gewalt doch immer wieder neue Gewalt gebiert, ein nie enden wollender Zyklus ohne Aussicht auf Happy End? Und nicht zuletzt: Wieviel Leid hält ein Mensch aus, bevor er daran zerbricht. Und wo ist Gott dann?

Filmpremiere war am Mittwoch in Berlin

„Martin liest den Koran“ hat so viele Ebenen, dass der Zuschauer gelegentlich kaum folgen kann. Und er ist schwer auszuhalten. Nicht nur wegen seiner Bilder. Auch inhaltlich ist der Film düster, stellt mehr Fragen als er Antworten anbietet. Die beiden Hauptdarsteller Tukur und Demirov bieten in diesem Kammerspiel ihr ganzes Können auf und enttäuschen nicht. Tatsächlich erinnern Kamera und Schnitt ein wenig an die sehr populären und immer etwas verrückten Tukur-Tatorte in der ARD. Nur eben noch ein Stück finsterer.

„Martin liest den Koran“ ist kein Film, der sich an Islam-Vorurteilen bedient und auch keiner, der versucht, die Religion an sich als gut oder schlecht einzuordnen. Am Ende, das darf man vielleicht verraten, erscheint Gott sogar als Schatten an einer Wand. Als so etwas wie ein stummes und unscheinbares Hoffnungszeichen in Zeiten der absoluten Finsternis. Ein Film, nicht für jeden. Aber einer, der Gesprächsstoff bietet.

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