pro: Wo lag der Arbeitsschwerpunkt von Medair vor der Explosion am 4. August?
Steffen Horstmeier: Wir sind seit 2012 im Libanon aktiv. Dort kümmern wir uns im Bekaa-Tal an der syrischen Grenze hauptsächlich um Flüchtlinge. Diese halten sich dort in den informellen Siedlungen auf und leben in Zelten oder halbfertigen Häusern ohne Fenster und Türen. Wir helfen ihnen, die Häuser zu renovieren und so zu gestalten, dass sie dort sicher leben können. Ein zweiter Schwerpunkt ist der Gesundheitssektor. Hier betreuen wir mittlerweile noch sechs Gesundheitszentren. Vier weitere haben sich so gut entwickelt, dass sie zu Kliniken geworden sind. Auf dem Gesundheitssektor kümmern wir uns um die Rehabilitierung der Patienten, aber auch um Renovierungen und die Schulung des Personals. Darüber hinaus haben wir in den vergangenen Jahren die informellen Siedlungen kartiert und statistisch erhoben. Das war sehr arbeitsintensiv. Aktuell sind wir mit 80 Mitarbeitern vor Ort.
Die Explosion hat alles verändert. Was waren Ihre ersten Gedanken, als Sie davon erfahren haben?
Zum einen gibt es eine persönliche Perspektive. Bis vor einem Jahr war ich selbst Landes-Direktor im Libanon und habe das kleine Büro außerhalb von Beirut und das Größere im Bekaa geleitet. Zudem habe ich eine libanesische Frau. Natürlich ging es zunächst einmal darum, sich nach den Mitarbeitern und der eigenen Familie zu erkundigen. Von ihnen war niemand betroffen. Als nächstes schießen einem Fragen durch den Kopf, wie es wohl vor Ort aussieht und was zu tun ist. Viele Hilfsorganisationen haben in den Trümmern nach Überlebenden gesucht. Wir haben unsere Expertise aus dem Bekaa-Tal genutzt.
Was bedeutet das konkret?
Medair hat drei Gebiete zugeteilt bekommen und sich dort um die Unterkünfte der Menschen gekümmert. Wir konnten in den vergangenen vier Wochen 2.000 Haushalten helfen, eine erträgliche Wohnsituation herzustellen. Wir haben die Wohnungen oft mit Hilfe einfacher Sperrholz-Konstruktionen wieder bewohnbar gemacht. Die Menschen haben Werkzeuge bekommen, damit sie ihr Haus auch selbst reparieren können. Ganz wichtig waren die Pakete mit Hygieneartikeln aller Art. Davon gab es auch eine Ausgabe für Babys und Kleinkinder. Mittlerweile haben wir vom Koordinierungsrat noch ein viertes Gebiet zugeteilt bekommen, um das wir uns kümmern.
Sie haben eben auch die Arbeit in den Kliniken erwähnt. Wie sieht es hier aus?
Es gab im Hafengebiet drei zerstörte Krankenhäuser und zwölf Kliniken – das sind kleinere Gesundheitseinrichtungen. Wir wollen uns darum kümmern, dass zwei dieser Kliniken wieder aufgebaut werden. Darüber hinaus war es uns wichtig, die Menschen auch psychologisch zu betreuen. Die Psyche der Menschen ist durch die Ereignisse sehr strapaziert. Viele Menschen waren über Tage getrennt und brauchten professionelle Ansprechpartner. Hier haben wir unsere Expertise eingebracht.
Hat die Katastrophe die religiösen Grenzen verschwimmen lassen?
Es ist oft davon die Rede, dass es diese religiösen Abgrenzungen gibt und die Menschen sich über ihre Religion identifizieren. Aber es gibt auch jetzt viele Gelegenheiten wie religiöse Feste, bei denen sich Menschen über Religionsgrenzen hinweg helfen. Auch bei den Demonstrationen im Oktober 2019, die zum Fall des Premierministers geführt haben, hat dies kaum eine Rolle gespielt. Viele Menschen haben verstanden, dass es dem Land besser geht, wenn alle Religionen zusammenhalten. Wir selbst sind ein christliches Hilfswerk, haben aber Mitarbeiter aus allen Religionsgruppen. Das hilft in der Reflexion der Ereignisse.
Sie konnten zahlreiche ehrenamtliche Helfer für Ihre Arbeit gewinnen …
Ja, unsere ehrenamtlichen Helfer kommen alle aus dem Land selbst. Experten von außerhalb hereinzufliegen, wäre ein enormer Aufwand in Zeiten von Corona-bedingten Reisebeschränkungen. Die Einheimischen haben den Vorteil, dass sie die lokalen Gegebenheiten kennen und oft schneller wissen, was zu tun ist. Dank der Ehrenamtlichen konnten wir gleich Hilfe liefern, damit sich die Menschen selbst helfen konnten.
Der Libanon bietet der Hisbollah Unterschlupf, die die Existenz Israels negiert. Darf Hilfe an Bedingungen geknüpft werden?
Nein, das darf sie nicht. Es gibt ganz viele Theorien und Vermutungen, was die Explosion ausgelöst hat. Wir wollten einfach nur helfen, in einer schwierigen Situation, in einem Land, das von vielen Krisen und steigenden Infektionszahlen gebeutelt ist.
Wie kann man Menschen vermitteln, für humanitäre Hilfe zu spenden, wenn die Ursachen im Terror und dem radikalen Islam liegen?
In dem Fall ist klar, dass keiner etwas für die Situation kann. Die Menschen spenden ja nicht für die Politik, deren Parteien fast alle an den Ursachen der Krise beteiligt sind und das Land heruntergewirtschaftet haben, sondern an eine Organisation. Natürlich arbeiten wir mit den lokalen Behörden zusammen, aber wir sind völlig unabhängig und neutral.
Wie sieht denn der weitere Zeitplan aus?
Ich denke, wir werden bis Ende des Jahres in diesem Modus weitermachen. Manche Gebäude müssen auch von Spezialfirmen abgerissen werden. Wir wollen die Arbeiten an den Kliniken wieder zum Laufen bringen und müssen dann sehen, wie lange die Ressourcen noch reichen. Der Libanon hat die meisten Flüchtlinge je Einwohner weltweit, hat eine wirtschaftliche Krise und die Corona-Krise zu überstehen. Jetzt ist der Hafen als wichtiger Wirtschaftsmotor weggebrochen. Da braucht es viel Geduld und Zeit, um die Lage zu bewältigen.
Vielen Dank für das Gespräch.
Die Fragen stellte Johannes Blöcher-Weil
Medair e.V. im Libanon: Medair ist eine international tätige Not- und Katastrophenhilfsorganisation. Der deutsche Zweig hat seinen Hauptsitz in Wiesbaden. Den Einsatz im Libanon begann Medair bereits 2012. Die Organisation arbeitet auf Basis des christlichen Menschenbildes. Sie konzentriert ihre Hilfe auf schwer erreichbare Krisen- und Konfliktregionen und setzt sich für Menschen ein, die in besonderen Notlagen sind – zum Beispiel schwangere Flüchtlinge, Menschen mit Behinderungen oder Kinder.