„Die libanesische Bevölkerung kann die Hisbollah nicht stoppen“

Die Angst vor einem zweiten Gaza ist bei Christen im Libanon groß. Lukas Reineck arbeitet für die Hilfsorganisation Christlicher Hilfsbund im Orient e.V. und ist im Kontakt mit Pfarrern vor Ort. Er berichtet, wie Christen die aktuelle Situation im Libanon erleben.
Von PRO
Beirut, Libanon, Hochhäuser

Vor gut einem Jahr war Pfarrer Jiro Ghazarian aus dem Libanon bei uns in Bad Homburg zu Besuch. Er war der Gastsprecher auf unserem Jahresfest im vergangenen Oktober. Nur wenige Tage vor seiner Einreise ereignete sich der Überfall der Hamas auf das „Supernova Sukkot Festival“, in der Nähe des Gazastreifens, im Süden Israels. Das schlimmste Pogrom an Juden nach der Schoah, würde man Wochen nach dem Massaker über diesen Tag, den 7. Oktober 2023, sagen.

Die Ereignisse im Nahen Osten überschatteten den Besuch von Pfarrer Jiro Ghazarian. In Gedanken war er ständig bei seiner Familie. Nervös verfolgte er jede Nachricht aus dem Libanon. Seine Frau und die beiden Kinder waren zu Hause geblieben. Noch unmittelbar vor seiner Anreise war unklar, ob er überhaupt nach Deutschland fliegen kann.

„Ich hoffe, die israelische Armee bombardiert nicht auch noch Beirut“, sagte mir Jiro Ghazarian vor einem Jahr mit einem sorgenvollen Gesichtsausdruck, als wir nachmittags zusammen in einem Café saßen. Jiro und ich sind Freunde. Wir haben uns beim Theologiestudium in Beirut kennengelernt – vor über zehn Jahren. Er ist ein fröhlicher Mensch, der auch zum Scherzen aufgelegt ist. Von seiner Leichtigkeit war in diesen Tagen, im Oktober 2023, nichts zu erkennen.

„Schon einmal, 2006, habe ich erlebt, wie Bomben auf Beirut gefallen sind. Das war eine schwere Zeit für uns. Ich möchte das nicht nochmal erleben. Sie sollen uns einfach in Ruhe lassen. Ich möchte in Frieden leben“, teilte er mir vor einem Jahr seine Sorgen über den weiteren möglichen Kriegsverlauf mit.

„Betet für uns“

Und jetzt? Ein Jahr später ist im Nahen Osten Krieg. Die israelische Armee bekämpft die islamistische Hisbollah-Miliz auf dem Boden und aus der Luft. Die Menschen im Libanon, in Beirut, leiden. Auch Jiro und seine Familie gehen durch stürmische Zeiten. Seine Gemeinde, die zur Vereinigung der Armenischen Evangelischen Kirchen im Nahen Osten (UNION) gehört, befindet sich in der libanesischen Hauptstadt im Viertel Ras Beirut, nahe der Mittelmeerküste. Der Kontakt in den Libanon geht meist über Whatsapp. Auf meine Frage, wie das Gemeindeleben im Krieg weiter gehe, schickte er mir eine Sprachnachricht mit folgendem Inhalt:

„Die Libanesen, die ein Haus in den Bergen rund um Beirut haben, ziehen sich dorthin zurück. Am vergangenen Sonntag hatte ich nur fünf Gottesdienstbesucher. Es ist den meisten zu unsicher, sich ins Auto zu setzten und durch Beirut zu fahren. In den letzten Wochen sind die Menschen einem enormen Stress ausgesetzt. Einige nehmen Tabletten, um diese Tage der Ungewissheit auszuhalten. Betet weiter für uns.“

Beim Abspielen der Nachricht hörte man, wie angespannt Jiro klingt.

Karte von Beirut und der Distanz zur Gemeinde von Jiro Ghazarian, wo eine israelische Rakete eingeschlagen hat Foto: Lukas Reineck
Karte von Beirut und der Distanz zur Gemeinde von Jiro Ghazarian, wo eine israelische Rakete eingeschlagen hat

Beirut ist eine dicht besiedelte Stadt. Jetzt, wo täglich mehr libanesische Binnenflüchtlinge aus dem Süden in die Metropole drängen, sind die diakonischen Dienste der Kirchen gefragt.

So auch die UNION in Beirut. Freiwillige, Studenten und Schüler armenischer Schulen im Libanon verteilen Essenspakete, Hygieneartikel und Matratzen an die Geflüchteten. Schulen, darunter auch christliche, sind zu Schlafstätten für Geflüchtete umfunktioniert worden. Der Großteil der Geflüchteten aus dem Süd-Libanon sind schiitische Familien. Alle sind sie libanesische Staatsbürger. Trotzdem: Nicht alle in Beirut empfangen die Geflüchteten mit offenen Armen. Es gibt Vorbehalte.

„Wer sind diese Menschen? Wir kennen sie nicht. Wer weiß, ob sie nicht etwas mit der Hisbollah zu tun haben. Nachher bombardiert die israelische Armee auch noch unsere christlichen Schulen“, schildert ein libanesischer Pfarrer seine Bedenken.

Verteilaktion der Armenisch-Evangelischen Kirche an Geflüchtete in Beirut Foto: Lukas Reineck
Verteilaktion der Armenisch-Evangelischen Kirche an Geflüchtete in Beirut

Israelische Drohnen fliegen regelmäßig über Beirut und observieren die Gegend. Von Christen aus dem Libanon hörte ich auch, dass sie die Attacke mit den Pagern im September, die vermutlich der israelische Geheimdienst Mossad ausführte, als unethisch bezeichnen.

„Dabei sind auch Kinder und Zivilisten verletzt worden und nicht nur Hisbollah Akteure. So präzise, wie es behauptet wird, war die Attacke nicht. Und übrigens gibt es auch Ärzte in Krankenhäusern, die solche Pager als Kommunikationsmittel verwenden“, erzählte mir Jiro in einer weiteren Sprachnachricht.

Gerade wegen der Unsicherheit darüber, dass, wenn man schiitische Geflüchtete aufnimmt, ein potenzielles Ziel der israelischen Luftwaffe sein könnte, steigen die Anspannungen unter den verschiedenen Konfessionen, wie den Drusen, Christen und Sunniten.

Ganz unberechtigt ist der Zweifel nicht. Im Oktober passiert es. Etwas außerhalb von Beirut wurde ein Gästehaus „Dar Assalam“, wie die Tagesthemen berichteten, von einer israelischen Rakete getroffen. Spendengelder aus Deutschland unterstützten dort die Versorgung und Unterbringung von Geflüchteten. Eine der Engagierten des Trägervereins in Deutschland kenne ich persönlich; eine evangelische Pfarrerin im Ruhestand.

Tägliche Raketeneinschläge

Intensive Bombardierung von Hisbollah-Stellungen gibt es auch in der Bekaa-Ebene. In der Nähe der antiken römischen Tempelanlage Baalbek. Dort, wo sonst Touristen über den Baccus-Tempel Bauklötze staunen.

In Anjar, einem kleinen armenischen Dorf nahe der syrischen Grenze in der Bekaa-Ebene, wo die UNION seit über 80 Jahren ein Jungen- und Mädcheninternat unterhält, hört man seit Anfang Oktober fast täglich Raketeneinschläge.

Detonation verschiedener Hochhäuser in Beirut

70 Geflüchtete wurden in Räumlichkeiten, die zum Internatskomplex gehören, untergebracht. Für die Internatsleitung sind es Tage schwieriger Entscheidungen. Wo ist es sicherer für die Internatsschüler? Sollen sie in Anjar im Internat bleiben oder ist es doch besser sie nach Beirut zu ihren Familien zu schicken? Man entschied sich, die Kinder in Anjar zu behalten.

„Zu Beginn des neuen Schuljahres Ende September kamen die Internatskinder nach Anjar und waren ganz gespannt auf den Schulanfang. Aber noch bevor sie ihre Schulbücher aufschlagen konnten, waren sie konfrontiert mit der harten Realität von Raketeneinschlägen in der unmittelbaren Nachbarschaft. Jetzt, da die Internatskinder bei der Verteilung von Lebensmitteln an die Geflüchteten helfen, lernen sie außerhalb der eigenen Komfortzone Nächstenliebe praktisch zu leben und das Gute, was auch sie von Gott empfangen haben, weiterzugeben.“ teilte mir Nanor Akbasharian, die Internatsleiterin, mit.

Verschlüsselte Textnachrichten

Wenn wir online über politische Themen mit unseren Partnern im Libanon sprechen, dann muss man immer etwas zwischen den Zeilen lesen.

„Die gelbe politische Partei mit dem bärtigen großen Typen“, heißt es in einer Nachricht. Damit ist die militante Hisbollah mit ihrem getöteten Vorsitzenden Hassan Nasrallah gemeint. Erwähnt man den Staat Israel in einer Textnachricht, dann schreibt man diesen mit Leerzeichen „Is ra el“. Wohl aus Vorsicht und Unsicherheit, wer den Chatverlauf sonst noch mitliest.

Linda Maktaby, eine Pfarrerin der Evangelischen Nationalkirche von Beirut, betreut Geflüchtete in der libanesischen Hauptstadt. Sie beobachtet, dass Drusen und Christen ein großes Herz für die Geflüchteten haben. Leider nehme sie wahr, dass sunnitische Muslime schiitische Geflüchtete mitunter vor verschlossener Türe stehen lassen – teilweise werde ihnen nicht einmal erlaubt, eine sanitäre Anlage einer sunnitischen Moschee zu nutzen. 

„Normalerweise lässt es niemanden kalt, wenn man eine geflüchtete Familie im Straßenrand sitzen sieht, die im Müll wühlt. Da muss man einfach helfen“, so Pfarrerin Linda Maktably.

Verteilaktion von Pfarrerin Linda Maktaby, Beirut, Essensausgabe Foto: Lukas Reineck
Essensausgabe an Geflüchtete bei der Verteilaktion von Pfarrerin Linda Maktaby

Ein traumatisiertes Land

Ehrenamtliche Initiativen gehen in Beirut auch von Privatpersonen aus. Beispielsweise besuchen Friseure die Geflüchteten auf den Straßen Beiruts, um ihnen kostenlos die Haare zu schneiden. Und machen den Kindern eine Freude damit, indem sie sie hübsch machen. Es gibt auch Freiwillige, die seelsorgerlich ausgebildet sind und ihre Hilfe den Geflüchteten anbieten. Syrische Geflüchtete, die sich während des syrischen Bürgerkrieges in der Bekaa-Ebene niedergelassen haben, fühlen sich durch die israelische Bombardierung von Hisbollah-Stellungen zunehmend unsicher im Libanon. Kehren sie jedoch nach Syrien zurück, drohen ihnen Repressalien, weil sie Gegner des Assad-Regimes oder Deserteure sind, die im Bürgerkrieg nicht auf der Seite des syrischen Regimes kämpfen wollten. Ein Dilemma.

„Die Binnenflüchtlinge wollen, wenn der Krieg vorbei ist, in ihre Häuser im Süden zurückkehren. Es gibt unter den Geflüchteten Menschen, die vermögend waren. Jetzt müssen sie in einfachsten Unterkünften zurechtkommen. Die meisten der Geflüchteten sind dankbar für die diakonischen Angebote von Kirchgemeinden. Es gab aber auch Fälle, in denen Essen von Geflüchteten weggeschmissen wurde, weil es nicht nach islamischer Vorschrift Halal, also geschächtet, war“, sagt die Pfarrerin weiter.

Pfarrer Jiro Ghazarian und Lukas Reineck Foto: Lukas Reineck
Pfarrer Jiro Ghazarian (links) und der Autor des Artikels, Lukas Reineck

Der Libanon ist ein mehrfach traumatisiertes Land. Die Detonation im Hafen Beiruts, am 4. August 2020, eine Wirtschaftskrise, die Explosion von Pagern sowie Funkgeräten und jetzt der Krieg zwischen Israel und der Hisbollah sind für die libanesische Bevölkerung unzumutbar. Die Politikelite ist korrupt und das Geld vieler Libanesen auf Bankkonten eingefroren.

„Forderungen von internationalen Organisationen, dass sich die libanesische Zivilgesellschaft gegen die Hisbollah stellen soll, sind unrealistisch. Die normale libanesische Bevölkerung kann die Hisbollah nicht stoppen, auch wenn sie das wollte. Wir müssen im Libanon jetzt sehr darauf achten, dass wir nicht in einen Bürgerkrieg abrutschen“, so Pfarrerin Linda Maktaby in einer weiteren Nachricht.   

Und wie geht es Pfarrer Jiro Ghazarian? Vor ein paar Tagen schrieb ich Jiro eine lustige Nachricht, um ihn etwas aufzuheitern. Wir lachen gerne zusammen. Bisher hat er noch nicht geantwortet. Vermutlich ist ihm gerade nicht zum Lachen zu mute.

Von: Lukas Reineck, Christlicher Hilfsbund im Orient e.V.

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