Es sei das „Woodstock für Gamer“, schreibt die Zeitung Die Welt über die Spielemesse „Gamescom“, die dieses Jahr vom 21. bis 25. August in Köln stattfindet. Wie jedes Jahr pilgern auch 2018 wieder tausende Spielefans nach NRW. Zum 10-jährigen Jubiläum der weltweit größten Videospielmesse erwarteten die Veranstalter im Vorfeld bis zu einer halben Million Besucher. pro hat sich im Getümmel umgeschaut.
Zunächst fällt auf: Auf der Gamescom 2018 kommt das riesige Kölner Messegelände an seine Grenzen; die Schätzung von einer halben Million Besuchern wirkt nicht verfehlt. Teilweise stehen die Zocker mehrere Stunden an, um sehnlich erwartete Spiele auszuprobieren. Viele sind extra aus dem Ausland angereist.
Die Dimensionen zeigen: Videospiele sind längst keine Nische mehr, kein Hobby nur für hoffnungslose „Nerds“. Videospieler haben längst eine einflussreiche Subkultur gebildet – und die ist nicht arm an religiösen Elementen.
Gamer haben ihre Identität gefunden
Entsprechend steht die Messe 2018 unter dem Motto „Vielfalt gewinnt“. „Die Bandbreite des Mediums ist innerhalb der vergangenen Jahre stark gewachsen“, schreiben die Veranstalter im offiziellen Messeheft. Die rund 1.000 Aussteller geben ihnen Recht. Zu fast jeder erdenklichen Thematik gibt es auf der Messe ein Spiel anzutesten, von Weltkrieg bis Landwirtschaftssimulator. Gerade „Indie-Games“, also unabhängig entwickelte Spiele mit kleinem Budget und vergleichsweise simpler Grafik, wagen sich oft an komplexe ethische Themen.
Die Vielfalt der Szene ist auch an den Besuchern ersichtlich. Inzwischen bestehe knapp die Hälfte der Spielerschaft aus Frauen, schreiben die Veranstalter. Der durchschnittliche Gamer sei in Deutschland 36 Jahre alt, die Ü-50 stellten die größte Spielergruppe. Wer bei Zockern vornehmlich an (männliche) Teenager denkt, wird auf der Messe überrascht.
Die Gruppenidentifikation unter den Gamern ist hoch. Vielen Besuchern auf der Messe sieht man ihre Szenenzugehörigkeit an – teils auch klischeehaft durch Beleibtheit und ungepflegte Erscheinung, vor allem aber durch T-Shirts, Käppis oder Tattoos. Die Gamer haben ihre eigene Identität als Subkultur gefunden. Besonders deutlich wird das an den „Cosplayern“. Sie verkleiden sich als Figuren aus ihren Lieblingsspielen. Da laufen uns Roboter mit Laserkanonen über den Weg, behaarte Barbaren in Plattenrüstung oder Anime-Schulmädchen mit riesigen Schwertern.
Bundesregierung will Spieleentwickler fördern
Auch die Politik hat die Relevanz der Gamer als gesellschaftliche Gruppe erkannt. War letztes Jahr noch Bundeskanzlerin Angela Merkel persönlich auf der Messe, kam dieses Jahr die Staatsministerin für Digitales, Dorothee Bär (CSU), zur Eröffnung. Sie versprach bei ihrem Grußwort der Spielebranche staatliche Förderung in Deutschland.
Hintergrund: Computerspiele sind ein Wachstumsmarkt. Rund 1,5 Milliarden Euro Umsatz generierten sie vergangenes Jahr in der Bundesrepublik, rund 34 Millionen Deutsche sind zumindest Gelegenheitszocker. Von dem Geld gehen aber nur rund 5 Prozent an deutsche Entwickler, der Rest fließt ins Ausland. Durch die Förderung solle sich das ändern. Im Bundestag finde man Computerspiele inzwischen „super“, sagte die Ministerin.
Besonders eindrücklich die gesellschaftliche Relevanz von Computerspielen zeigt ein zunächst recht unauffälliger Stand in der Nähe des „Cosplay-Village“. Dort steht ein Blumenbogen und ein kleiner Traualtar, wie man sie von amerikanischen Hochzeiten kennt. Der Stand gehört zu „Heine-Wedding“. Der Dienstleister hat sich auf die Ausrichtung von Hochzeiten mit Subkultur-Thema spezialisiert. Wer mit „Super Mario“-Motto heiraten möchte, kann sich das von der Firma einrichten lassen. Das zeigt: Auch sakrale Lebensbereiche werden in der Gaming-Community auf je eigene Weise gedeutet.
Blizzards Liturgie
Tatsächlich weisen Spiele-Präsentationen auf der Gamescom selbst Elemente auf, die man als liturgisch bezeichnen könnte. Die Bühnenshow des amerikanischen Entwicklerstudios „Blizzard“ („World of Warcraft“, „Overwatch“) etwa erinnert an einen Hillsong-Gottesdienst. Ein „Prediger“ berichtet begeistert von den Vorzügen des neuen Spiels. Geschickt wird das Publikum eingebunden, man darf etwa Quiz-Fragen zu Blizzard-Spielen beantworten und kann so Käppis oder Trinkflaschen gewinnen – natürlich mit Blizzard-Logo. Wird ein neues Spiel präsentiert, jubelt die Community.
Auch die Spiele selbst haben teils theologisch sehr komplexe Inhalte. In „Divinity: Original Sin II“ („Göttlichkeit: Ursünde“) etwa geht es um einen Gottmenschen, der die Welt des Bösen von der der Sterblichen fernhält. Weil der alte „Amtsinhaber“ tot ist, schlüpft der Spieler nun in die Christus-ähnliche Rolle.
Beliebte Spiele zeichnen düstere Zukunftsvisionen
Insgesamt standen die neuen Spielehits klar im Vordergrund der diesjährigen Gamescom. An endlosen Reihen von PCs probieren Spieler den bald erscheinenden Ego-Shooter „Battlefield 5“ aus, der im Zweiten Weltkrieg spielt. Sie standen bis zu drei Stunden lang an.
„Fallout 76“ und „Cyberpunk 2077“ blicken derweil in eine düstere Zukunft. In der „Fallout“-Reihe hat der nukleare Holocaust fast alle Menschen ausgelöscht, die Überlebenden kämpfen um den Wiederaufbau der amerikanischen Zivilisation. Die Reihe spielt traditionell mit Elementen amerikanischer Kultur, Vorgänger „Fallout 4“ etwa spielte im zerstörten Boston. Die „76“ im neuen Teil bezieht sich auf das amerikanische Gründungsjahr 1776 und sein dreihundertjähriges Jubiläum, das im Spiel 2076 nach der nuklearen Apokalypse stattfindet.
In „Cyberpunk 2077“ ist es zwar ein Jahr später, doch die USA stehen noch – halbwegs. Die Gesellschaft ist zerrüttet, die politische Macht haben gigantische Firmen inne, die das Gesetz oft selbst in die Hand nehmen und dafür Söldner und Glücksritter anheuern. In die Rolle eines solchen schlüpft der Spieler. Er kann das ganze Leben seines Charakters ausfüllen – inklusive romantischer Beziehungen mit Nebencharakteren. Wie aus der Präsentation auf der Gamescom deutlich wurde, sind den Spielern dabei auch gleichgeschlechtliche Liebeleien möglich. Beide Spiele wurden auf der Messe exklusiv präsentiert und werden von Spielern auf der ganzen Welt sehnlich erwartet.
„Independent Games“ wagen sich an komplexe Themen
Weniger Blockbuster-Charakter hatten auf der Gamescom die zahlreichen Indie-Spiele. Sie müssen weniger auf Massentauglichkeit achten und können stattdessen unverbrauchte Szenarien und komplexe ethische Probleme bearbeiten. Auf der Gamescom konnten Spieler etwa „My Child Lebensborn“ anspielen. Darin schlüpfen sie in die Rolle der Zieheltern eines Lebensborn-Kindes im Norwegen nach dem Zweiten Weltkrieg. „Lebensborn“ ist historisch ein von den Nazis gegründetes Projekt, in dem Kinder arischer Abstammung „gezüchtet“ wurden. Im Spiel muss der Spieler mit den ethischen Schwierigkeiten umgehen, ein Kind aus dem Programm aufzuziehen, das unter anderem von seinen Mitschülern gemobbt wird.
Ebenfalls der Nazi-Thematik widmet sich das Indie-Spiel „Through the Darkest of Times“, das schon vor der Messe für Aufsehen gesorgt hatte. Es ist das erste Videospiel überhaupt, das nach einer Gesetzesänderung in Deutschland NS-Symbole wie Hakenkreuze oder den Hitlergruß zeigen darf. Dies sei aufgrund der „klaren Gegnerschaft zum NS-Regime“ legitim, sagte Elisabeth Secker, die Geschäftsführerin der Unterhaltungssoftware Selbstkontrolle (USK), die in Deutschland Spiele auf ihre Alterseignung prüft. Bundesfamilienministerin Franziska Giffey (SPD) hatte das Spiel indes kritisiert. „Mit Hakenkreuzen spielt man nicht“, sagte sie.
„Through the Darkest of Times“ ist allerdings nur im weitesten Sinne ein Spiel – nicht der Spielspaß steht im Vordergrund, sondern die politische Bildung und die Symbolkraft. Der Spieler steuert eine Widerstandsgruppe gegen die NS-Gewaltherrschaft im Berlin von 1933 und muss dabei knifflige Entscheidungen treffen: Riskiere ich etwa meine Haut, um einem alten jüdischen Mann zu helfen, der auf dem Alexanderplatz von SA-Leuten drangsaliert wird?
Das Spiel stammt aus dem deutschen Zwei-Mann-Studio „Paint Bucket“. Gründer Jörg Friedrich reagierte gegenüber der Berliner Morgenpost auf Giffeys Kritik. Es gebe inzwischen Jugendliche, die keine Filme mehr schauten. „Diese Jugendlichen lernen ihr Geschichtsbild nur aus Computerspielen – und in diesem Geschichtsbild soll es keine Nazis geben? Keinen Zweiten Weltkrieg, keinen Holocaust, keinen Antisemitismus? Das halte ich für viel gefährlicher.“ Unten im Video finden Sie eine Szene aus dem Spiel.
Kirche will auf der Gamescom die Jugend erreichen – Bundeswehr auch
Neben Spieleentwicklern und Ausstattern von Gaming-Equipment sind allerdings auch andere Institutionen auf der Messe vertreten – darunter auch die Kirche. Die evangelische Jugend in Köln und Umgebung hat ihren Stand in Halle 10 aufgebaut. Zocken kann man dort allerdings nicht – stattdessen soll der Stand ein Kontrastprogramm bieten, bei dem Bewegung im Vordergrund steht und die Besucher sich auspowern können.
„Wir sind auch dieses Jahr wieder auf der Gamescom, um dort zu sein, wo die Jugend ist“, heißt es in einem Promotion-Video der Evangelischen Jugend vom letzten Jahr. Man wolle den Jugendlichen zeigen, „dass Kirche weder verstaubt noch trocken ist, sondern richtig viel Spaß macht“. Es sollen vor allem Jugendliche und junge Erwachsene erreicht werden, die sonst keine Berührungspunkte mit der Kirche haben. So gibt es unter anderem einen „Menschenkicker“, aufblasbare „Bungee-Run“-Kurse oder eine Kletterhügel an dem kirchlichen Stand.
Auch soziale Initiativen wie „Demokratie leben“ vom Bundesfamilienministerium oder die „Mobile Beratung gegen Rechtsextremismus NRW“ sind auf der Messe vertreten. Sie wollen unter anderem Hass im Netz und in Unterhaltungsmedien begegnen.
Einen „Shitstorm“ für ihren Auftritt auf der Gamescom erntete indes die Bundeswehr in den sozialen Medien. In ihrer Kampagne verknüpft sie Computerspiele mit militärischer Realität und wirbt mit Slogans wie „Multiplayer at its best“ oder „Mehr Open World geht nicht“ um neue Rekruten. Im Spiele-Jargon steht „Open World“ für eine frei begehbare Spielwelt.