An Weihnachten war es ausnahmsweise mal wieder so weit. Die Menschen strömten zum Gottesdienst in die Frankfurter Paulskirche. Doch das Bild hat Seltenheitswert. Die Kirche, die zur DNA der Metropole gehört wie der Römer und der Main, diente als Ausweichquartier in der Pandemie. Bis 1848 der Grundstein für die deutsche Demokratie gelegt wurde, war sie sogar die protestantische Hauptkirche der Stadt – und sie ist es bis 1944 geblieben.
Bis heute gibt es die dazugehörige Evangelisch-lutherische St.-Paulsgemeinde. Das Gemeindeleben spielt sich aber in der fußläufig zwei Minuten entfernten Alten Nikolaikirche am Römerberg ab. Ihre Pfarrerin ist Andrea Braunberger-Myers. Sie betrachtet das historische Erbe als Chance für ihre Gemeinde und die Gesellschaft. Beruflich beschäftigt sie sich regelmäßig mit der wechselhaften Geschichte der Kirche. Im Mittelalter war an dem Standort ein Kloster der Barfüßer, wie die Franziskaner umgangssprachlich genannt wurden. Im Zuge der Reformation wurde hier das erste evangelische Abendmahl in Frankfurt gehalten. Nachdem Risse im Dach festgestellt wurden, entschied man sich 1789 für einen Neubau. Dieser dauerte wegen knapper Finanzen bis 1833.
Christen sahen demokratische Entwicklung positiv
Im März 1848 beschloss das lutherische Prediger-Ministerium, die Paulskirche für die Sitzung der Nationalversammlung zur Verfügung zu stellen. Dem Gremium gehörten alle Prediger der städtischen lutherischen Kirchen an. Nach der Anfrage seitens der politischen Bewegung habe nicht einmal eine Sondersitzung stattgefunden: „Es zeigt, dass die protestantischen Christen der demokratischen Entwicklung sehr positiv gegenüberstanden“, sagt Braunberg-Myers. Eilig wurde die Kirche mit den neuen schwarz-rot-goldenen Bundesfahnen geschmückt, um einen würdigen Rahmen für die Zusammenkunft des Parlaments zu schaffen. Der Altar wurde abgebaut und die Orgel mit einem breiten Vorhang verdeckt. Darauf war das Gemälde der Germania mit Fahne und Schwert zu sehen, rechts und links davon je ein Lorbeerkranz mit vaterländischen Versen.
Das Ziel der Frankfurter Nationalversammlung bestand darin, aus den einzelnen Kleinstaaten, König- und Herzogtümern einen deutschen Nationalstaat zu gründen und eine Verfassung zu erarbeiten. An seiner Spitze, so sah es die am 28. März 1849 verabschiedete Verfassung vor, sollte ein „Kaiser der Deutschen“ stehen. Aber der preußische König Friedrich Wilhelm IV. lehnte die Kaiserkrone ab. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte das Parlament 40 Mal in der Kirche getagt. Die dort erarbeite Verfassung trägt heute noch den Namen der Kirche. Im Mai 1849 endete die Zeit der Paulskirche als Parlamentssitz. Die Gemeinde hatte in dieser Zeit ihre Gottesdienste in den umliegenden Kirchen gefeiert. Nach der Sanierung der Kirche kehrten die Gläubigen wieder dorthin zurück.
Doch die wechselhafte Geschichte des Gebäudes ging weiter. Beim Luftangriff auf Frankfurt im März 1944 zerstörten Bomben Dachstuhl und Innenraum der Kirche. Nach Kriegsende war es den Stadtvätern wichtig, die Kirche als „Wiege der Demokratie“ schnell wieder aufzubauen, um zum 100-jährigen Jubiläum einen demokratischen Neuanfang zu schaffen. Weil im Krieg die kleinere Alte Nikolaikirche weniger zerstört und schneller aufgebaut wurde, erwies sich das Gotteshaus als ordentliche, aber vorübergehende Alternative.
Warum ihre Gemeinde Paulsgemeinde heißt, sich das kirchliche Leben aber in der Nikolaikirche abspielt, muss Braunberger-Myers immer wieder erklären: Der evangelische Gemeindeverband schloss 1953 mit dem Frankfurter Magistrat einen Vertrag ab, der noch heute gültig ist. Die zum Jubiläum am 18. Mai 1948 wiedereröffnete Kirche wird seitdem von der Stadt genutzt. Sie trägt auch die Kosten für den Erhalt und Bauarbeiten. Die Gemeinde vor Ort darf die Kirche bei Bedarf für Gottesdienste nutzen.
Braunberger-Myers hat dies bisher hauptsächlich bei ökumenischen Gottesdiensten oder zu besonderen Anlässen wie Stadtjubiläen und jetzt wieder an Weihnachten getan – mit vorgeschriebenem Abstand konnten mehr als sechs Mal so viele Menschen den Gottesdienst mitfeiern als in der Alten Nikolaikirche. Ansonsten wurde die Kirche für repräsentative Zwecke, wie die Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels, genutzt. Es gibt für die Theologin auch pragmatische Gründe, nicht mehr Gottesdienste in der Paulskirche zu feiern. Der Kirchenraum sei nach dem Krieg mit dem Gedanken gestaltet worden, dass Frankfurt deutsche Hauptstadt und die Paulskirche Sitz des Parlaments werden könnte. Diese Hoffnung erfüllte sich nicht. Für Gottesdienste ist der Raum aber nicht gut geeignet. Die Akustik eigne sich mehr für das gesprochene Wort als für die Musik.
Glocken erinnern an 1848
Von den 4.500 Bewohnern im Stadtbezirk gehören heute etwas mehr als 1.000 Menschen zur Paulsgemeinde. Die Pfarrerin selbst ist vor den Toren Frankfurts aufgewachsen. Als sie 1988 ihren Dienst antrat, wusste sie um die herausragende Bedeutung der Kirche. Wo immer möglich, versucht die Pfarrerin in ihrer Arbeit die Bedeutung der Paulskirche hervorzuheben. Viele Menschen wüssten zwar, dass dort die Nationalversammlung getagt habe, aber nicht, dass sie bis 1944 immer die evangelische Hauptkirche der Stadt gewesen sei.
Der Anteil der Kirchen an der demokratischen Entwicklung sei über die Jahrhunderte nicht zu unterschätzen. Die Pfarrerin verschweigt beim Ritt durch die Geschichte aber nicht, dass sich die Gemeinde auch an der Demokratie „schuldig gemacht“ habe, etwa während der Nazizeit. Aktuell nehme sie in vielen westlichen Ländern eine starke Kritik an der Demokratie wahr. Das sei vor zwei bis drei Jahrzehnten nicht denkbar gewesen, findet die Theologin. Braunberger-Myers möchte sich einmischen – „auf dem Boden des Evangeliums“. Als Theologin müsse sie nicht alle Themen kommentieren, aber: „An bestimmten Punkten ist es unsere Pflicht, uns als Kirche zu positionieren.“
Das Evangelium sei nicht dazu da, der Politik Vorgaben zu machen. Christen müssten sich aber sehr wohl nach ihrer gesellschaftlichen Verantwortung fragen. Für die Pfarrerin bedeute das zum Beispiel, dass Kirche mit ihren Angeboten keine Schranken aufbaue. Gemeinden und Christen müssten im Blick haben, was sich vor ihrer Haustür abspiele. Sie unterfüttert dies mit einem Beispiel aus ihrer Gemeinde. Vor einigen Jahren habe sich in Frankfurt eine Bewegung analog zu Pegida gebildet: „Als sie auf dem Römerberg über mehrere Wochen demonstriert haben, war es für mich als Pfarrerin normal, ein großes Banner mit Bibelvers an der Kirche aufzuhängen, das zum verantwortungsvollen Umgang mit Flüchtlingen aufruft.“
Sie selbst kümmert sich mit 50 Prozent ihrer Stelle um die Arbeit der Offenen Nikolaikirche. Aufgrund ihrer zentralen Lage ist sie für Besucher, die aus aller Welt hier vorbeikommen, ganztägig geöffnet. Mit musikalischen und diakonischen Angeboten möchte sie in die Stadt hineinwirken. „Diese Arbeit ist interessant und eröffnet viele Möglichkeiten. Gerade in einer multikulturellen Stadt wie Frankfurt, wo rund 180 Nationen zusammenleben.“
1848 hätten die Protestanten die Demokratiebewegung als Chance erkannt. Das wünscht sie sich auch heute. Immer wenn die Paulskirche läutet, erinnert die sogenannte Bürgerglocke an die Proklamation der Bürger- und Menschenrechte durch die Nationalversammlung.
Aktuell hat die Debatte um die Zukunft der Kirche wieder Fahrt aufgenommen. Die Frankfurter Stadtverordneten entschieden im November 2019 nach einem Bürgerdialog, das Gebäude zu sanieren. Der Haushaltsausschuss des Bundestages hat 20 Millionen Euro dafür bewilligt. Ergänzend dazu soll ein „Haus der Demokratie“ entstehen. Bis 2023 sollen die Planungen dafür abgeschlossen sein. Dann feiert Deutschland das 175. Jubiläum der Nationalversammlung. Kulturstaatsministerin Monika Grütters wünscht sich in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, dass eine solche Einrichtung „die kritische Auseinandersetzung mit den Grundlagen des Zusammenlebens in einer freiheitlichen Gesellschaft“ fördert. Dies ist im Sinne des Evangelischen Stadtdekanats. Es hat eine offizielle Erklärung abgegeben, dass es das Gebäude nicht im Zustand von 1848 rekonstruieren möchte.
Wenn über ein „Haus der Demokratie“ nachgedacht werde, freut das die Theologin. Die Gemeinde hat sich dazu verpflichtet, ihre eigene lokale Rolle bei der demokratischen Entwicklung angemessen darzustellen – mit all ihren Stärken, aber auch den Brüchen.
In der Frankfurter Nationalversammlung tagte seit dem 18. Mai 1848 erstmals ein gesamtdeutsches Parlament. Die Abgeordneten setzten sich in politischen Fraktionen zusammen und verhandelten über die Gründung eines deutschen Nationalstaates. Die Versammlung wählte Erzherzog Johann von Österreich zum „Reichsverweser“. Das provisorische Oberhaupt des entstehenden Staates war bei Monarchisten, Anhängern des Großdeutschen Reiches und Linken gleichermaßen beliebt. Aufgrund unvereinbarer Ziele und fehlender Machtmittel verlor die Nationalversammlung jedoch zunehmend an Bedeutung. Ihre Ziele scheiterten, als der preußische König Friedrich Wilhelm IV. die Kaiserkrone ablehnte. Als die Revolution 1849 niedergeschlagen wurde, gab Erzherzog Johann sein Amt wieder ab.
Der Artikel ist im Christlichen Medienmagazin pro erschienen, das Sie telefonisch unter der Nummer 06441/5667700 oder digital hier bestellen können.