Nach dem ersten Schock und der Eingewöhnungszeit kommt jetzt die Zeit, wo wir uns zumindest an manche Maßnahmen gewöhnt haben und einen Teil des Kopfes wieder freibekommen, um nachzudenken. Nachzudenken darüber, was uns diese Krise lehrt. Nachzudenken darüber, wie wir weiterleben möchten. Nachzudenken darüber, worauf wir unsere Zukunft bauen wollen. Nachzudenken darüber, was wir aus der Zeit vor Corona in die Zeit nach Corona überhaupt mitnehmen möchten.
Eins ist uns dabei allen klar: Der „Tanz auf dem Vulkan“ ist vorüber, denn er ist ausgebrochen. Und eins ist auch klar: „Höher, schneller, weiter“ wird sich ganz stark verwandeln müssen. Vielleicht in: „Genug ist genug“.
In meiner Arbeit mit und für die Ärmsten der Armen habe ich von ihnen eins gelernt: Das Gegenteil von Armut ist nicht Reichtum! Das Gegenteil von Armut ist „Genug haben“. Aber was ist „Genug“? und wann ist „Genug genug“? Wenn ich darüber nachdenke, fallen mir sofort Christy und ihr Mann Muendwa ein. Sie leben in einer abgehalfterten Blechhütte im Slum von Kibera in Nairobi (Kenia). Sie haben zwei Kinder, aber ihre zehnjährige Tochter lebt nicht bei ihnen. Sie mussten sie an andere Leute abgeben, weil sie nicht genug zu essen für sie hatten. So sind jetzt noch drei Menschen in dieser Familie satt zu bekommen. Muendwa schlägt sich so durch, dass er immer genug für den nächsten Tag zu essen beschaffen kann. Aber auch nicht mehr. Genug für den nächsten Tag. Diese Familie ist kein Einzelschicksal. Es gibt tausende von ihnen, und das nicht nur im Slum von Kibera.
Mein Leben in der „Ersten Klasse“
Wenn ich ihre Lebenshaltung mit meiner vergleiche, dann muss ich zugeben: Nein, es reicht mir nicht, nur genug zu essen für den nächsten Tag zu haben! Ja, ich fahre gerne Auto, fahre gerne in den Urlaub, freue mich über meine Hobbys und bin sehr dankbar für eine gut gefüllte Speisekammer, die durchaus eine Corona-Zeit zu überleben imstande ist (inklusive Vorrat an Toilettenpapier!). Wenn ich an Christy und Muendwa denke, bin ich nicht nur herausgefordert, sondern ich beginne, mich manchmal etwas zu schämen.
Ich frage mich öfter, was Gott sich dabei gedacht hat, dass ich in Deutschland geboren wurde und sie in Kibera. Was will Gott von mir? Er hat mir soviel gegeben. Wofür? Ich habe genug von allem, und von so vielem mehr als genug! Diese Gedanken führen mich zur Dankbarkeit und sogar zu einer gewissen Großzügigkeit. Und trotzdem merke ich immer wieder, dass ich tatsächlich in der „Ersten Klasse“ des Lebens leben darf.
Manche bräuchten wirklich mal Urlaub
Wenn ich mich als guter Europäer sehe und mich umschaue, wie wir gelebt haben und wie wir gedenken, weiterzuleben, dann stelle ich fest: In der „Ersten Klasse“ verlieren wir mehr und mehr die Wahrnehmung dafür, was ein „Leben in Hülle und Fülle“ tatsächlich wert ist.
Reichtum ist wie Salzwasser trinken. Man wird immer durstiger und der Durst wird niemals gestillt. Ein Blick auf Statistiken macht uns schnell klar: Eine große Mehrheit der Weltbevölkerung lebt mit deutlich weniger als wir Europäer, speziell wir Deutsche. Eine große Mehrheit der Weltbevölkerung würde sich niemals darüber beklagen, dass es jetzt erstmal nix mehr wird mit den drei Urlauben pro Jahr, dem Wellness-Wochenende zwischendurch und den üppigen Festen und Feiern.
Nein, die große Mehrheit der Weltbevölkerung weiß noch nicht einmal, was das überhaupt ist: Urlaub! Urlaub wovon? Dabei würde die große Mehrheit der Weltbevölkerung gerne mal Urlaub haben: Urlaub vom täglichen Überlebenskampf, Urlaub vom kräftezehrenden Bestreben, den nächsten Tag noch zu erleben. Urlaub vom Todeskampf, weil die Arztrechnung nicht bezahlt werden kann und man daher erst gar nicht zur Klinik fährt.
Zwei Dinge sind lebensnotwendig
Wie bei so vielen Dingen in unserem Leben, finden wir einen Teil der Antwort auf diese Fragen in der Bibel. Hier zum Beispiel in Sprüche 30,7–9: „Gott, zwei Dinge erbitte ich von dir, verweigere sie mir nicht, bevor ich sterbe. Bewahre mich davor, andere zu belügen oder zu betrügen. Und lass mich weder arm noch reich werden, sondern gib mir gerade so viel, wie ich brauche. Denn wenn ich reich werde, könnte ich dich verleugnen und sagen: ‚Wer ist der Herr?‘ Und wenn ich zu arm bin, könnte ich stehlen und so den heiligen Namen Gottes in den Schmutz ziehen.“
Zwei Dinge: Weder arm noch reich sein! Wow! Der Mann, der dieses Gebet gesprochen hat, hieß Agur. Offensichtlich wichtig genug, dass er es in die Bibel geschafft hat. Und in der Tat erwähnt er in seinem Gebet zwei Dinge, die existenziell wichtig sind. Auch für uns! Ich muss ehrlich zugeben, dass ich dieses Gebet noch nie gebetet habe. Ich bin immer froh, wenn ich Gott für alles Gute danken kann, was er mir über den Weg schickt. Und manches davon habe ich mir, ehrlich gesagt, auch selbst gekauft, ohne zu lange nachzufragen. Dankbar bin ich trotzdem.
„Unser tägliches Brot gib uns heute“
Je länger ich über dieses außergewöhnliche Gebet von Agur nachdenke, desto mehr tritt eine andere Zeile in mein Bewusstsein. Auch aus einem Gebet, aus dem weltberühmten „Vater Unser“: „Unser tägliches Brot gib uns heute!“ Unser tägliches … heute! Das ist sehr wahrscheinlich das Gebet von Christy und Muendwa und den Millionen anderen Menschen, die täglich um ihre Nahrung kämpfen müssen und heute nicht wissen, was sie morgen essen werden.
Während ich das schreibe, denke ich, dass ich gleich noch mal in den Keller gehen sollte. Dann kann ich genau sagen, was es die nächsten zwei Wochen bei uns zu essen geben könnte. Es ist genug vorhanden. Kein Grund zur Sorge. „Zwei Dinge erbitte ich von Dir, Herr“, so das Gebet von Agur. Für mich war bisher die Spannbreite zwischen „Arm“ und „Reich“ sehr groß. Ich fühlte mich keiner Gruppe wirklich zugehörig. Aber definitiv gehöre ich eher auf die Seite der Reichen als auf die der Armen.
Ich frage mich, ob das „Gebet des Agur“ mich verändern würde? „Herr, lass mich weder arm noch reich sein, sondern gib mir genug zum Leben!“ Würde ich mich überhaupt trauen, es ernsthaft und ehrlich zu beten? Wann ist genug genug? Wüsste ich nicht jetzt schon, dass die Folge „downgrading“ statt „upgrading“ bedeuten könnte?
Die Gefahr des Fortschritts
Die Gefahr des Fortschritts ist, dass wir irgendwann zum „Höher, schneller, weiter“ verdammt sind. Und das ist in Deutschland, aber auch in allen westlichen Ländern geschehen. Verdammt zum größeren Auto (war das alte wirklich schon schrottreif?), verdammt zum schöneren Haus (wer will schon in einer kleinen Wohnung wohnen?), verdammt zum bombastischeren Urlaub (wer will schon den Nachbarn nachstehen?). Doch bevor sich jetzt herber Widerspruch breit macht: Ja, ich lebe selbst nicht so, und sehr viele Menschen auch in Deutschland leben nicht so.
Und trotzdem scheint sich bei uns eine Mentalität breit gemacht zu haben, die einen wie auch immer gearteten Fortschritt als das Ziel aller Dinge ansah. Unser „Genug“ war und ist immer noch „mehr als genug“. Habe ich nicht auch von allem viel zu viel? Das „Gebet des Agur“ führt mir noch etwas anderes vor Augen. Etwas, das ich von den Armen gelernt habe, nämlich das Vertrauen, den nächsten Tag überleben zu werden. Vielleicht kann ich es das „Urvertrauen ins Leben“ nennen. Als Christ würde ich es das „Vertrauen auf Gott“ nennen, der mich genau so lange leben lässt, wie es ihm gefällt. Trotz Corona und allen Gefahren, die mir mehr oder weniger in meinem bisherigen Leben begegnet sind und noch begegnen werden.
Jetzt, wo eine Pandemie alles auf den Kopf gestellt hat und fast alles zu einem Stillstand gekommen ist, scheint es mir an der Zeit, die richtigen Schlüsse zu ziehen. „Weder arm noch reich“. Lieber Agur, dein Gebet wird mich noch lange beschäftigen. Es beginnt, sich in mir auszubreiten.
Steve Volke ist Journalist und Buchautor. In seinem Hauptberuf leitet er den deutschen Zweig des international tätigen Hilfswerks Compassion International.