Die Getragene

Vanessa Schirges Muskeln versagen einer nach dem anderen. Für ihre extrem seltene Erkrankung gibt es weder Therapie noch Heilung. Doch sie gibt den Glauben nicht auf.
Von Anna Lutz

Draußen ist es kalt, Eisblumen breiten sich am Fenster aus, die Straße glitzert weiß, ein Tag im Januar, perfekt zum Schlittschuhlaufen, Schlitten fahren, für einen Spaziergang in der Winterlandschaft. Vanessa Schirge hat an ihrem Esstisch Platz genommen, gleich neben ihr die warme Heizung, auf dem Tisch die Herrnhuter Losungen. Heute wird sie das Haus nicht verlassen. Zu groß ist die Gefahr, zu stürzen. Ohnehin sind Spaziergänge für sie ein kurzes Vergnügen. 500 Meter, weiter schafft sie es nicht mehr. Und sollte sie doch einmal fallen, dann braucht sie Hilfe zum Aufstehen. Verletzt sie sich die Muskeln, heilen sie nicht. Deshalb darf sie auch keinen Sport machen. Muskelkater ist für andere Menschen ein gutes Zeichen. Bei ihr treibt er die Krankheit voran.

„Zentronukleäre Myopathie“ heißt die Krankheit, die sie nicht nur an eisigen Wintertagen ans Haus fesselt. In Deutschland gibt es nur einige Dutzend Fälle. Vanessa ist einer davon, sie trägt diesen Gendefekt seit ihrer Geburt mit sich. Dabei ahnte zunächst niemand etwas. Sie stürzte als Kind zwar häufiger als andere, trieb aber Sport und tat auch sonst alles, was Kinder tun. Einzig ihr etwas eigener Laufstil fiel auf, bis heute zieht sie ein Bein leicht nach. „Das verwächst sich“, sagten die Ärzte. Doch es verwuchs sich nicht. Es wurde schlimmer.

Es begann mit dem Knie

Mit 19 Jahren springt Vanessa die Kniescheibe heraus. Das kann auch bei gesunden Menschen passieren, doch bei ihr kommt es immer wieder. Heute weiß sie: Es war schon damals die Krankheit. Denn zentronukleäre Myopathie sorgt dafür, dass die Muskeln im Körper nach und nach schwächer werden, bis sie ihren Dienst versagen. Auch die Kniescheibe wird von Muskeln und Sehnen gehalten. Und die bauten ab. Ein MRT vom Knie wird gemacht, der Arzt reagiert verblüfft: „Solche Muskeln habe ich noch nie gesehen.“ Die Muskelzellen sehen anders aus als die gesunder Menschen. Für Vanessa beginnt ein Ärztemarathon. Zwei Jahre lang sitzt sie in Sprechstunden von Neurologen, Radiologen, Orthopäden. Lässt unzählige Untersuchungen über sich ergehen. „Einige davon waren sehr unangenehm“, erinnert sie sich und verzieht das Gesicht. Eine Lumbalpunktion etwa. Dabei wird mit einer langen, etwas dickeren Nadel Nervenwasser aus dem Rücken entnommen. Vanessa muss sich auf einen Behandlungstisch setzen, den Rücken krumm machen und der Arzt führt die Nadel zwischen zwei Rückenwirbeln ein, um an die Nerven zu gelangen. Nach vielen Untersuchungen kommt die Nachricht schließlich von einem Assistenzarzt: „Eine Behandlung gibt es nicht und Sie werden wahrscheinlich bald im Rollstuhl sitzen“, sagt er. Vanessa verlässt die Praxis. Und weint. Gewissheit hat sie nun. Doch Heilung gibt es keine. Und nicht einmal eine richtige Therapie.

Als Jugendliche ist Vanessa Schirge geritten. Heute geht das nicht mehr.

Heute ist sie 35 Jahre alt. Die Krankheit ließ ihr lange Frieden, erst mit 26 bekommt sie sie zum ersten Mal richtig zu spüren. Sie steht damals kurz vor der Abschlussprüfung zur Diätassistentin. Auf dem Weg zum Kochunterricht, spät dran und mit einem schweren Rucksack auf dem Rücken, fällt sie hin. Es mag nur eine kleine Unebenheit auf dem Weg gewesen sein, aber die geschwächte Beinmuskulatur hatte versagt. Sie stürzt, ein Glas Apfelmus zerbricht in der Tasche. Vanessa sitzt auf dem Boden und versteht sofort: Das ist keine Tollpatschigkeit. Es ist meine Krankheit. Sie braucht jetzt mehr Pausen, sowohl bei Bewegung als auch beim Lernen. Zum ersten Mal nimmt sie wegen der Myopathie Hilfe in Anspruch. In Form eines sogenannten Nachteilsausgleichs bei der Prüfung. Sie bekommt mehr Zeit für den schriftlichen Test. Bis heute arbeitet sie daran, ihre Schwächen anzuerkennen und ihnen Raum zu geben, indem sie sich entlastet. Haushaltshilfe, Veranstaltungen absagen, sich Ruhe gönnen – „Ich mache da eine Lernkurve“, sagt sie. „Vermutlich eine lebenslang andauernde.“ 

Hilfe für chronisch Kranke

Heute nutzt sie für längere Wege oder Ausflüge einen Rollstuhl. Sie kocht noch selbst, vermeidet es aber, große scharfe Messer in die Hand zu nehmen. Zu leicht könnte sie damit abrutschen. Am meisten zu schaffen machen ihr die Schmerzen: Seit drei Jahren tut ihr permanent etwas weh. Tendenz: zunehmend. Vanessa beschreibt die Beschwerden als Gliederschmerzen im Rücken, in den Armen und in den Beinen. Und sie leidet an ständiger Müdigkeit: „Ich muss extrem aufpassen, dass ich mich nicht überlaste. Dann breche ich zusammen und kann einen Tag oder zwei gar nichts tun.“

Seit 2017 ist sie deshalb berentet. Doch Stillstand bedeutet das für sie nicht. Zusammen mit ihrem Ehemann Nathan gibt sie Eheseminare bei der christlichen Beratungsorganisation „Team F“, sie predigt und bietet Seelsorge in ihrer Baptistengemeinde an. Mit „Team F“ arbeitet sie an einem Seminar speziell für Menschen mit Erkrankung. „Wir wissen, wie es Menschen mit chronischen Krankheiten geht. Und was das mit Beziehungen macht. Wir kommen nicht von oben herab und haben die zehn besten Tipps für die Ehe parat. Sondern wir verstehen und hören zu.“

Vanessa Schirge mit ihrem heutigen Ehemann Nathan

Das „Wir“ kommt nicht von ungefähr. Denn auch ihr Mann Nathan hat eine Behinderung. Er ist Autist mit Asperger-Syndrom. Vor zwölf Jahren lernen sich die beiden auf einer christlichen Website kennen. Beide erzählen sich von Anfang an von ihren Krankheiten. Ihr erstes Treffen bezeichnet Vanessa als „seltsam“. Denn Asperger bringt mit sich, dass Erkrankte direkt äußern, was sie denken. Sozialer Umgang fällt vielen schwer, mit Emotionen umzugehen ebenfalls. Stress sorgt für Erschöpfung oder emotionale Ausbrüche. Autismus äußert sich bei jedem Menschen anders. Der dritte Satz, den Nathan zu Vanessa sagt, lautet: „Das Blau deiner Jacke steht dir nicht.“ Heute lacht sie darüber. Damals entscheidet sie sich dafür, sich von solchen Worten nicht ablenken zu lassen. Sie will Nathan kennenlernen. Denn mit seiner schonungslosen Ehrlichkeit kommt ein anderes Gefühl bei ihr auf: „Hier kann ich sein, wie ich bin.“

„Ich glaube an einen liebenden Gott, aber ich verstehe ihn nicht.“

Die beiden heiraten zwei Jahre später. Ihr Trauspruch lautet: „Einer trage des anderen Last“. Auf wenige Ehepaare dürfte das so zutreffen wie auf dieses. Vanessa erstellt gemeinsam mit Nathan Wochenpläne, um für ihn das Leben zu strukturieren. Sie macht die Steuererklärung. Sie erledigt Ämtergänge mit ihm, erklärt geduldig, welche Reaktionen in sozialen Beziehungen wann angemessen sind. Gönnt ihm Ruhe, wenn wieder einmal alles zu viel ist. Er trägt die Einkaufstüten. Führt das Messer beim Zubereiten von Mahlzeiten. Stützt sie, wenn sie beim Spaziergang schwächelt. Vanessa und Nathan tragen einander durchs Leben.

In ihrem Freundeskreis zweifelt niemand daran, dass sie füreinander bestimmt sind. Und doch gibt es diese Tage, an denen beide vom Leben überfordert sind. Vor einigen Wochen feiern sie zusammen mit der Familie Silvester, neun Kinder, sechs Erwachsene. Den Neujahrsbrunch sagen Schirges ab. Die beiden müssen sich rausnehmen, einen Tag Pause machen, niemanden sehen und nichts hören. Danach geht es wieder. Wer die Schirges kennenlernt, trifft auf ein glückliches Paar. Eines, das weiß, dass nicht alle Träume in Erfüllung gehen. Eines, das sich an kleinen Dingen, wie einem leckeren Abendessen herzlich erfreuen kann. Und das zugleich über das trauert, was es nicht hat. „Ich glaube an einen liebenden Gott. Aber ich verstehe ihn nicht. Das muss ich aushalten“, sagt Vanessa heute. „Ich glaube nicht mehr, dass ich morgen wach werde und geheilt bin. Weil Gott andere Pläne hat.“ Zum Beispiel, dass sie andere durch ihr eigenes Lebenszeugnis ermutigt. Ob Gott sie denn heilen könnte? „Er könnte, da bin ich mir sicher!“, sagt sie ohne zu zögern.

Wie ihre Zukunft aussieht, weiß Vanessa nicht. Nur, dass die Krankheit kontinuierlich fortschreitet. Probleme könnte ihr das Herz machen, denn das ist ebenfalls ein Muskel. Seit einer Coronaerkrankung ist ihre Lunge in Mitleidenschaft gezogen. Die Muskeln, die ihr beim Husten helfen sollen, sind zu schwach. Sie braucht maschinelle Unterstützung beim Abhusten. Über kurz oder lang wird sie dauerhaft auf ihren Rollstuhl angewiesen sein. Und sie kann nicht ausschließen, irgendwann beatmet werden zu müssen. Was bleibt, wenn Beruf, Familiengründung, Gesundheit und Bewegungsfreiheit wegfallen? Sie sagt: „Gott bleibt. Der Dienst, den wir tun, bleibt. Und unsere Ehe bleibt.“ Dann lächelt sie und blickt wieder hinaus auf den gefrorenen Gehweg.

Dieser Text erschien zuerst in Ausgabe 1/2024 des Christlichen Medienmagazins PRO. Bestellen Sie PRO kostenlos hier.

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