PRO: Herr Chialo, Sie sind seit April 2023 Senator für „Kultur und Gesellschaftlichen Zusammenhalt“. Ohne Zweifel ist Berlin eine Kulturstadt. Aber wie steht es um den Zusammenhalt?
Joe Chialo: Wir können Berlin nicht entkoppeln vom Rest der Welt und grundsätzlich sehe ich eine große Herausforderung darin, zusammenzufinden. Wir haben keine dominanten Leitmedien mehr, Organisationen wie die Kirchen oder Gewerkschaften, an denen sich ein Großteil der Gesellschaft orientiert, sind in den Hintergrund geraten. Stattdessen gibt es viele kleine Echokammern, in denen Menschen sich hauptsächlich mit Gleichgesinnten treffen. Dadurch haben wir ein Stück weit die Fähigkeit verloren, uns ineinander hineinzuversetzen, gerade wenn wir nicht einer Meinung sind. Es ist auch die Verantwortung meines Hauses, Formate zu entwickeln, die dabei helfen, dass Menschen zueinanderfinden.
Viele Juden fühlen sich dieser Tage in Berlin nicht sicher.
Diese Angst vieler jüdischer Menschen ist mir sehr bewusst. Ich bin mit vielen Jüdinnen und Juden im Gespräch. Ich sage aber: Not under my watch! Nicht mit mir! Solange ich hier Verantwortung trage, werde ich mich dafür einsetzen, dass jüdische Berlinerinnen und Berliner sicher sind. Zugleich darf auch kein Raum für Islamfeindlichkeit sein.
Sie sind Christ. Berlin wird immer wieder als die Hauptstadt des Atheismus bezeichnet. Erleben Sie Berlin so?
Nein, keineswegs. Die Allermeisten glauben doch an etwas. Diese Stadt ist voller Spiritualität. So gut wie jeder ist hier auf der Suche nach den letzten Antworten. Dazu muss auch nicht jeder jeden Sonntag in die Kirche gehen. Aber ich gebe zu: Berlin kann auch kalt sein. Die Berlinerinnen und Berliner begegnen einem nicht unmittelbar mit offenen Armen. Das muss man erstmal verstehen, wenn man neu hierherkommt.
Sie sind das Kind tansanischer Diplomaten, im Rheinland aufgewachsen, hatten einen katholischen Pater als Ziehvater, sind gelernter Handwerker, wurden Türsteher, Sänger einer Metalband, Musikmanager unter anderem der „Kelly Family“ und schließlich Politiker. Zudem sind Sie heute bei der CDU, waren aber auch schonmal Mitglied der Grünen. Da wird einem ja schwindelig!
Ich habe immer versucht, in den jeweiligen Momenten meines Lebens das Richtige zu tun. Und dazu habe ich öfter neue Anläufe genommen.
Wie sind Sie als tansanischer Junge in einem katholischen Internat im Rheinland gelandet?
Mein Vater war Diplomat, wurde nach Deutschland versetzt, wo ich auch geboren bin. Teile meiner Kindheit habe ich dennoch auch in Tansania verbracht. Eines Tages wurde mein Vater nach Schweden versetzt und meine Eltern fanden, dass ich und mein Bruder feste Wurzeln schlagen sollten. Mein Vater kannte aus seiner Zeit in Bonn einen Pater, der unseren Eltern anbot, uns im Internat aufzunehmen.
Ihre Eltern haben Sie ins Internat gebracht, ohne Ihnen zu sagen, dass sie Sie verlassen würden. Sie wussten von nichts und plötzlich waren ihre Eltern fort. Damals waren Sie neun Jahre alt. Das muss schrecklich gewesen sein.
Die ersten Wochen sind wie im Flug vergangen, alles war neu. Irgendwann habe ich dann gemerkt, dass das meine neue Lebensrealität sein sollte und das war schon eine bittere Pille. Ich habe damals gelernt, mich auch auf unbequeme Lebenssituationen einzustellen.
Das Leben in einem katholischen Internat muss Sie geprägt haben …
Ich habe dort die stabilsten Freundschaften meines Lebens geknüpft. Bis heute sind wir uns verbunden. Das Internat hat mich aber auch Struktur gelehrt. Das Gebet hat den Tag gegliedert. Wir haben morgens, mittags, nachmittags, abends gebetet. Und ich habe damals viel gelernt. Und ehrlich gesagt: Familienleben ist auch nicht immer schön und perfekt. Gelegentlich war ich froh, dass ich diese Art von Konflikten nicht erleben musste.
Haben Sie die Spiritualität Ihrer Kindheit beibehalten?
Ja, das Gebet begleitet mich. Ich stehe zu meinem Christsein, wenn man mich fragt und ich glaube, dass Beten eine Kraftquelle ist. Es lohnt sich, das neu zu entdecken. Die Hinwendung zu etwas Größerem lehrt uns Demut. Und es hilft, sich zu strukturieren, seine Wünsche für die Zukunft zu sortieren. Leider ist das nicht mehr en vogue.
Schmerzt es Sie, dass viele Kirchen am Sonntag nahezu leer sind?
Es schmerzt mich nicht, aber ich finde es schade. Die Kirche hat im Laufe der Jahrhunderte so viele Phasen durchlebt, ich habe die Hoffnung, dass sich das wieder ändern wird. In dieser Zeit geht viel Gemeinschaft verloren, Menschen sind depressiv, orientierungslos, vermissen Sinn. Religion kann da helfen. Es gibt einen Bedarf nach der Nähe zu Gott. Und dieser Bedarf kann die Kirchen auch wieder füllen. Für viele ist auch die Form der Gottesdienste nicht zeitgemäß. Ich liebe es, das Gotteslob zu singen, in dem Wissen, dass das schon Menschen vor hunderten Jahren in derselben Weise getan haben. Aber mancher findet das eben auch lahm. Lobpreis braucht also verschiedene Formate.
Da hört man es schon ein wenig heraus: Sie wollten sogar mal Priester werden.
Ja, ich habe mich als junger Mensch immer gefragt, was der Sinn des Lebens ist. Ich habe mir diese Fragen nach Sünde und Gott und Ewigkeit gestellt. Am Ende habe ich aber doch keinen echten Ruf zum Priesteramt gespürt. Ich wollte aber immer mit Menschen zu tun haben.
Als Musikmanager haben Sie 2011 eine durchaus erfolgreiche Band mit dem Namen „Die Priester“ erfunden – um den Ruf der Kirche zu verbessern.
Ja. Die Kirche liegt mir am Herzen. Trotz der schrecklichen Missbrauchsfälle. Ich hatte damals die Idee, denjenigen etwas Gutes zu tun, die sich täglich für die Kirche einsetzen und eben nichts mit diesen schlimmen Taten zu tun haben. Ich wollte ein Licht auf das Gute in der Kirche werfen. Wir haben eine goldene Schallplatte in Deutschland geholt, fünf Alben aufgenommen und „Die Priester“ sind bis heute mein Lieblingsprojekt. Weil es mich einfach auch persönlich berührt hat.
Warum eigentlich der Abschied von der Musikbranche?
Ich habe nach wie vor meine Firmen in der Musikbranche und will diese Verbindung auch nicht kappen, auch wenn ich die Geschäftsführung selbstverständlich abgegeben habe. In die Politik bin ich gegangen, weil ich gesehen habe, dass wir uns gerade für die Kultur mehr einsetzen müssen. Das haben wir zuletzt in der Coronazeit gemerkt. Es gab keine Konzerte, alle politischen Entscheidungen wurden am Konferenztisch getroffen, teilweise ohne die betroffenen Kulturschaffenden einzubeziehen. Um das zu ändern, habe ich mein altes Leben aufgegeben.
Haben Sie als ein aus Tansania stammendes Kind im Rheinland der 70er und 80er Jahre Rassismus erlebt?
Ich habe Ausgrenzungserfahrungen gemacht, wie viele andere auch. Meine Erfahrungen sind nichts Besonderes. Aber natürlich war das schmerzhaft für mich.
Sie beschreiben in Ihrem Buch, wie Sie selbst auf Rassismus reagieren, und nennen das „Entfeindungsliebe“. Was ist das?
Entfeindungsliebe bedeutet, dass man mit offenem Herzen auf Menschen zugeht, auch wenn man eigentlich nicht mit der Person sprechen würde. Jeder hat eine Chance verdient. Wir sollten aufeinander zugehen anstatt die „bad vibes“, die schlechten Schwingungen, bestimmen zu lassen.
„Wir können uns nicht alle gegenseitig wegcanceln“, sagten Sie einmal.
Ja. Die Konservativen wollen oft nichts mit den Linken zu tun haben und andere eben nicht mit der AfD. Ich habe mich dazu entschieden, als Mensch ein Wanderer zwischen den Welten zu sein.
In der CDU wird hinlänglich über die sogenannte Brandmauer diskutiert, also die Weisung des Parteivorsitzenden Friedrich Merz, nicht mit AfD-Politikern zusammenzuarbeiten.
Diese politische Grenze finde ich richtig. Aber ich möchte dennoch nach dem christlichen Menschenbild leben und jedem offen begegnen und mit jedem sprechen. Egal, ob es um Coronapolitik geht, um den Krieg in Gaza oder die AfD.
Sie scheinen so wenig gemein zu haben mit Leuten wie Friedrich Merz oder Jens Spahn. Was verbindet Sie mit Ihren Kollegen?
Ich sehe da keine Trennung. Das „C“ verbindet. Friedrich Merz wird oft als knöchern und von vorgestern dargestellt. Natürlich hat Merz im vergangenen Jahr einige Aussagen getroffen, die ich nicht unterstütze. Aber wir müssen doch den gesamten Menschen sehen und den schätze ich. Die CDU ist außerdem keine Partei der sogenannten weißen alten Männer. Wir haben viele wunderbare Frauen in unseren Reihen, nehmen Sie nur Julia Klöckner, Wiebke Winter oder Serap Güler, die gerade den Entwurf zum neuen Grundsatzprogramm mit vorgestellt hat. Das Framing ist nicht korrekt.
Sie mögen es Framing nennen, aber ich bekomme Sie auch nicht in diese Berliner CDU einsortiert. Immerhin die Partei, die nach der Silvesternacht 2022 und den Ausschreitungen vorschlug, die Vornamen der Täter abzufragen – wohl um zu analysieren, ob sie mehrheitlich einen Migrationshintergrund haben. Hat Sie das nicht selbst getroffen?
Wir müssen die Dinge ehrlich ansprechen. Wenn der Verdacht besteht, dass es sich bei den Menschen, die damals Straftaten begangen haben, mehrheitlich um Menschen mit Migrationshintergrund handelt, müssen wir das auch sagen. Andererseits braucht es aber eben auch Kampagnen für diejenigen, die dieses Land am Laufen halten und ebenfalls einen Migrationshintergrund haben. Die müssen wir feiern – und zugleich Probleme benennen. Wir sollten uns ehrlich machen. Bei den guten wie bei den schlechten Dingen.
Vielen Dank für das Gespräch!