PRO: Warum ist das Thema Familie auch für Menschen wichtig, die keine eigenen Kinder haben?
Ana Hoffmeister: Nicht jeder hat Kinder, aber wir alle haben Familie – Großeltern, Eltern und Angehörige. Auch heute ist Familie noch immer das wichtigste Hilfsnetz, auf das wir uns in Notfällen und Krisen verlassen. Familien sind wichtige Leistungsträger unserer Gesellschaft. Davon profitieren wir alle – ob mit oder ohne Kinder. Aber leider ist Familie eine der am meisten unterschätzten Säulen unserer Zukunft.
Inwiefern profitiert die Gesellschaft von starken Familien?
Familie beantwortet ganz grundlegende Fragen in unserem Leben nach unserer Herkunft, nach unserer Zugehörigkeit und nach unserer Identität. Das sind wichtige Voraussetzungen für den späteren Umgang mit Lebenskrisen, aber auch für unsere Beziehungsfähigkeit und Resilienz. Gleichzeitig erleben wir in Familien Beziehungen über Generationen hinweg, Menschen in ihren unterschiedlichen Lebensphasen. Der Trend geht zudem dahin, dass Familien immer kleiner werden. Kinder, die jetzt aufwachsen, erleben oft diesen großfamiliären Kontext nicht mehr. Und dann wundern wir uns im wirtschaftlichen oder im beruflichen Umfeld: Warum können Jung und Alt nicht gut miteinander? Ich bin überzeugt davon, dass sich das, was wir in Familien kultivieren, letztlich im gesellschaftlichen, beruflichen und politischen Kontext auswirken wird.
Einerseits gibt es in unserer Gesellschaft eine große Sehnsucht nach Familie, gleichzeitig werden immer weniger Kinder geboren. Woher kommt dieser Widerspruch?
Es gibt viele Faktoren, die die Familiengründung verzögern oder erschweren. Das können finanzielle oder berufliche Gründe sein, oder es gibt keinen passenden Wohnraum. Oder Paare sind sich uneinig darüber, wie sie Erziehungsaufgaben aufteilen. Es hängt auch mit dem hohen Erwartungsdruck zusammen, unter dem junge Eltern, insbesondere Mütter, stehen.
Oft verdichten sich gerade in der Familiengründungsphase unterschiedliche Ansprüche: die berufliche Karriere, Familiengründung, der Traum vom Eigenheim. All das gleichzeitig erreichen zu wollen, kann sehr fordernd und erschöpfend sein. Und ich merke, dass der Anspruch, Eltern müssen alles alleine bewerkstelligen, in Deutschland sehr verbreitet ist. Das ist in anderen Kulturen nicht so sehr der Fall. Dort wird eher der Gedanke gelebt, dass mehr als nur die Eltern für die Kinder verantwortlich sind.

Zur Person
Dr. Ana Hoffmeister, Jahrgang 1985, ist verheiratet und Mutter von zwei Kindern. Sie arbeitet freiberuflich als Unternehmensberaterin und ist im Vorstand des Bundesverbands Vereinbarkeit. Im vorigen Jahr erschien von ihr das Buch „Future Family. Familien am Limit – neue Impulse für mehr Vereinbarkeit“ (Droemer-Knaur). Im gleichnamigen Podcast spricht sie mit immer anderen Gästen über die vielfältigen Aspekte dieses Themas.
Wie familienfreundlich ist Deutschland?
Aus meiner Beobachtung ist Deutschland kein familienfreundliches Land. Kinder werden nicht selten als Störfaktoren wahrgenommen, ob im Beruf oder in der Öffentlichkeit. Die Situation an Kindertagesstätten, Schulen, aber auch in der Pflege ist katastrophal, was Betreuungsschlüssel, Personalmangel oder auch allein den Zustand der Gebäude angeht. Auch daran zeigt sich der Stellenwert, den Kinder und Familien in unserem Land haben. Eltern müssen neben dem Beruf und der familiären Fürsorge zunehmend die unzureichenden und unzuverlässigen Systeme von Schulen, Kitas und der Pflege auffangen. Das führt in vielen Familien zu einer enormen Belastung.
Wie kann die Politik dazu beitragen, dass unser Land familienfreundlicher wird?
Es braucht generell einen stärkeren Fokus auf Familie über verschiedene Politikbereiche hinweg – das betrifft zum Beispiel zuverlässige Kinderbetreuung, mehr bezahlbaren und für Familien geeigneten Wohnraum oder finanzielle Förderung. Das Elterngeld wurde seit der Einführung 2007 nicht erhöht, der Kreis der berechtigten Familien wurde 2024 sogar eingeschränkt. Die Betreuungssituation in Kitas hat sich weiter verschlechtert und auch das Pflegesystem steht kurz vor dem Kollaps.
Es braucht insgesamt Rahmenbedingungen, die es Familien ermöglichen, zwischen guten Optionen zu wählen und ihren eigenen Weg zu finden. Dass Väter nach der Geburt eines Kindes zwei Wochen bezahlten Sonderurlaub bekommen sollen, ist ein kleiner Schritt. Doch selbst hier hat Deutschland die seit 2018 in Kraft getretene EU-Richtlinie als einziges Land in der EU immer noch nicht umgesetzt. Auch im Bildungswesen gilt es jetzt zu handeln, wenn wir zukunftsfähig bleiben wollen. Ein Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung, wie er ab 2026 gilt, hilft nicht, wenn es jetzt schon nicht genügend Lehrer und Erzieher gibt.
Was können Arbeitgeber tun, um Familien bei der Vereinbarkeit der verschiedenen Lebensbereiche zu unterstützen?
Zuerst sollten sie sich ein Bild über die Bedürfnisse und familiären Herausforderungen der Angestellten machen – das ist in der Praxis leider oft nicht der Fall. Erst dann kann man ein Arbeitsumfeld schaffen, das sich an der jeweiligen Lebensphase der Beschäftigten orientiert. Es gibt viele Arbeitsmodelle, die Familien erheblich entlasten können – ob flexible Arbeitszeiten, Karrieren in Teilzeit, geteilte Führung, Eltern-Kind-Büros, Betriebskitas oder eine finanzielle Hilfe bei der Kinderbetreuung. Für berufstätige Eltern gibt es oft weniger Urlaubstage als Schulferientage. Auch hier können Arbeitgeber unterstützen.
Es gibt auch Berufe, die per se familienunfreundlich sind, wo Schichten anfallen. Nicht jeder hat die Möglichkeit, am Schreibtisch zu arbeiten.
Das stimmt. Völlig unabhängig von der Branche entscheidet sich ganz viel in einer familienbewussten Führungskultur. Hat die Führungsebene Verständnis für die familiäre Situation und ist sie bereit, gemeinsam eine Lösung zu finden? Ich bin sicher: In Zeiten des Fachkräftemangels werden familienbewusste Unternehmen bessere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter gewinnen und langfristig erfolgreicher sein.
Eine ganz alte, auch biblische Weisheit ist der Zusammenhang zwischen den Generationen. Unser Leben ist eingebettet in eine größere Geschichte, die vor uns begonnen hat und uns überdauern wird.
Welchen Rat würden Sie Eltern geben, die in der Vereinbarkeitsfalle sitzen und nicht wissen, wie sie den verschiedenen Erwartungen gerecht werden können?
Wichtiger ist, sich bewusst zu machen: Was sind meine Bedürfnisse? Wie sieht mein Bild von Familie aus? Was sind die Werte, die ich in meiner Familie leben möchte – nicht nur in Bezug auf meine Kinder, sondern schon für die übernächste Generation? Ich rate Eltern, das Leben in Phasen zu überblicken und sich klar zu machen, was ihnen wann wichtig ist: Wir werden noch sehr lange arbeiten. Die Kinder sind über bestimmte Jahre sehr nähe- und bindungsbedürftig, sie sind nur eine begrenzte Zeit bei uns. Unsere Eltern und Angehörigen werden auch älter und nicht für immer bei uns sein. Ein zweiter Rat ist, das Familiennetzwerk zu erweitern, auch über die eigene Verwandtschaft hinaus: Es braucht viele Schultern, dieses sprichwörtliche ganze Dorf, um Kinder zu erziehen. Aber das braucht es auch, um gute Eltern zu sein und gesund zu bleiben.
Wie genau kann das aussehen?
Wir können zum Beispiel Menschen, die einsam sind und sich nach Gemeinschaft und Zusammenhalt sehnen, in Familien einbeziehen, wenn sie es wollen. Das kann eine Leihoma oder ein Leihopa sein, das können Nachbarn oder Studenten sein, die gerne helfen und sich über Anschluss freuen. Erhebungen zeigen, was es für einen positiven gesundheitlichen Effekt hat, wenn Menschen im Seniorenheim regelmäßig in Berührung mit Kleinkindern kommen und was Kleinkinder dann wiederum in diesem Kontext fürs Leben lernen. Ich glaube, Familie kann Generationen wieder miteinander verbinden.
Was können Gemeinden dazu beitragen, dass so etwas gelingt?
Oft ist der Familienwert in Gemeinden sehr stark verankert, doch in der Regel bleibt es bei der Zielgruppe „Mutter-Vater-Kinder“. Viele Eltern erleben die Gemeinde ja bereits als einen Ort, der für sie eine Art Großfamilie ist. Gemeinden können hier viel leisten, indem sie Familienanschluss auch für Menschen möglich machen, die keinen eigenen familiären Support haben. Allerdings hat in vielen Gemeinden jede Altersgruppe ihr eigenes Programm. Berührungspunkte zwischen den Generationen gibt es nur punktuell. Auch der Blick für die Bedürfnisse berufstätiger Eltern und pflegender Angehörige sollte geschärft werden. Sie sind oft mit den Kräften am Limit.
Welche Ratschläge finden Sie in Bezug auf Familie und auch auf diese Vereinbarkeitsfragen in der Bibel?
Eine ganz alte, auch biblische Weisheit ist der Zusammenhang zwischen den Generationen. Unser Leben ist eingebettet in eine größere Geschichte, die vor uns begonnen hat und uns überdauern wird. So wie wir von den Generationen vor uns geprägt worden sind, so prägen wir bereits heute nachkommende Generationen. Auch der Zusammenhang zwischen einem geklärten und guten Verhältnis zu den Eltern und den gesundheitlichen Auswirkungen davon auf unser eigenes Leben ist ein wichtiges Prinzip. Das wird im Bereich der Epigenetik wissenschaftlich immer weiter erforscht und belegt. Und dann ist mir in der Bibel noch etwas zur Rolle der Frau aufgefallen.
Nämlich?
Das Buch Sprüche enthält im Kapitel 31 das „Lob der tüchtigen Frau“. Hier wird eine Frau beschrieben, die sich um Kinder und den Haushalt kümmert. Aber nicht nur das: Sie ist berufstätig, sie arbeitet hart bis tief in die Nacht, handelt mit Gütern, beschäftigt Fachkräfte, besitzt Grundstücke, macht finanzielle Investitionen und erzielt Gewinne. Das zeigt in meinen Augen einen großen Entfaltungsraum, der ausdrücklich gewünscht ist. Das sprengt jegliche Vorstellung von: So und nicht anders müssen Ehe und Familie aussehen.
Vielen Dank für das Gespräch!
Der Artikel ist erstmals in der Ausgabe 1/2025 des Christlichen Medienmagazins PRO erschienen. Das Heft können Sie hier kostenlos bestellen.