„Deutschland hätte den Völkermord verbieten können“

Beim Völkermord an den Armeniern im Osmanischen Reich 1915/16 wurden rund 1,5 Millionen Menschen in die Wüste deportiert, grausam gefoltert und ermordet. Das Deutsche Reich als Bündnispartner der Türken war aktiv daran beteiligt. Im Interview erklärt der Historiker Ashot Hayruni, wie es dazu kam, welche Rolle die Kirchen in Deutschland spielten und was er von der Resolution des Bundestages hält.
Von PRO
Ashot Hayruni, geboren 1964, ist seit 2008 Professor für Geschichte an der Staatlichen Universität in Jerewan, der Hauptstadt Armeniens. Zuvor war er als Journalist tätig. Seine Schwerpunkte sind die Geschichte Armeniens und des Völkermordes.

pro: Welche Rolle spielten die Armenier im Osmanischen Reich?

Ashot Hayruni: Das Osmanische Reich war ein multiethnischer, multikultureller Staat. Die Armenier machten in ihren Wohnorten im Armenischen Hochland und in den östlichen Provinzen des Reiches über die Hälfte der Gesamtbevölkerung aus. Sie spielten in vieler Hinsicht eine sehr wichtige Rolle. Beispielsweise fanden sich das Handwerk und die Industrie dort zu 80 Prozent in armenischen Händen. Die türkische Architektur haben Armenier geprägt, Paläste der türkischen Sultane wie auch viele Moscheen sind von armenischen Architekten gebaut worden. Auch die erste Druckerei im Osmanischen Reich und das Zeitungswesen haben Armenier entwickelt.

Warum wollten die Türken sie dann loswerden?

Nach dem Russisch-türkischen Krieg 1877/78 wurde die osmanische Regierung von sechs europäischen Großmächten verpflichtet, für die Armenier Reformen durchzuführen, um deren Sicherheit und ihr Eigentum vor Kurden und anderen zu schützen. Sultan Abdülhamit II. sah dadurch die Integrität seines Landes bedroht. Er beschloss, die Armenische Frage durch die Ausrottung der Armenier zu lösen. Besonders 1895 und 96 kam es zu systematischen Massakern. Nachdem die Jungtürken 1908 den Sultan gestürzt hatten, wollten sie das Land islamisieren und türkisieren. Obwohl auch die jungtürkische Regierung vertraglich zu den Reformen verpflichtet wurde, sah sie im Weltkrieg die günstige Gelegenheit, die Armenische Frage dauerhaft zu lösen. Das bedeutete die Vernichtung der Armenier.

Wie ging das vor sich?

Bei den Deportationskonvois handelte es sich um Todesmärsche. Betroffen waren hauptsächlich Frauen und Kinder, weil die Männer, sobald sie ihre Wohnorte verlassen hatten, aus den Konvois ausgesondert und ermordet wurden. Bis zu 90 Prozent der Deportierten wurden unterwegs getötet oder sind, soweit nicht Türken und Kurden Frauen oder Mädchen verschleppten, durch Hunger und Erschöpfung umgekommen. Der Rest, der die Wüste erreichte, wurde dann durch systematisches Aushungern und Massaker vernichtet. Es wurden 66 Städte sowie 25.000 Dörfer entvölkert und 2.350 Kirchen entweder zerstört oder in Moscheen umgewandelt. Über 1,5 Millionen Armenier wurden getötet. Nur einem geringen Teil der armenischen Bevölkerung gelang die Flucht.

Wie verhielt sich die Bevölkerung?

Monatelang vor dem Ausbruch der Massaker wurde die Bevölkerung systematisch instrumentalisiert. Es wurde alles getan, um sie gegen die Armenier aufzuheizen. Sie wurden als Staatsfeinde hingestellt, gegen die man gewissenhaft vorgehen müsse. Sie müssten getötet werden, sonst gehe der Staat zugrunde. Sie seien Verbündete der Russen. Obwohl es dafür keine Grundlagen gab.

Welche Rolle spielte dabei die Religion?

Die Religion hat weder während der Massaker in den Neunzigerjahren noch beim Völkermord in den Jahren 1915/16 eine wichtige Rolle gespielt. Es ging in beiden Fällen um politische Entscheidungen. Das war kein ethnischer Konflikt. Kurden, Armenier, Araber und andere Völker lebten im Osmanischen Reich in mehr oder weniger guter Nachbarschaft. Obwohl alle Nichtmuslime, also Armenier, aber auch andere Christen sowie Juden, weniger Rechte hatten als Muslime. Sie durften etwa vor Gericht nicht als Zeugen aussagen oder keine Waffen tragen. Trotzdem gab es keinen ethnischen Konflikt, weil die Armenier gewinnbringend für die Türken und Kurden waren und sie miteinander Handel trieben.

Aber Armenier wurden auch zwangsislamisiert …

Während der Massaker in den Neunzigerjahren kam es auch zu massiven Islamisierungen. Häufig wurde den Armeniern gesagt, dass sie als Muslime leben können. Insofern hat die Religion eine Rolle gespielt. Aber sie war nicht die Ursache der Massaker. Bei dem großen Völkermord 1915/16 konnte eine Konversion nicht das Leben retten. Es gibt Berichte, dass Armenier eines Dorfes freiwillig konvertieren wollten, um nicht in die Wüste geschickt zu werden. Sie bekamen die Antwort: Sie können sich zum Islam bekehren, aber dann werden sie als Muslime deportiert. Die Konversion schützte im Völkermord der Weltkriegsjahre nicht vor Tod oder Deportation.

Wie haben sich die Kirchen in Deutschland verhalten, als die Informationen über die Massaker an den Armeniern nach Deutschland kamen?

In den Neunzigerjahren haben Armenierfreunde wie die Theologen Johannes Lepsius oder Ernst Lohmann, die den „Deutschen Hilfsbund für Armenien“ ins Leben riefen, es geschafft, die Aufmerksamkeit der beiden deutschen Kirchen auf die Lage der Armenier zu lenken. Im Jahre 1897 kam es zu einer Erklärung der Obersten Preußischen Generalsynode, in der sie allen ihren Gliedern in Deutschland empfahl, mit allen möglichen Mitteln den Armeniern zur Seite zu stehen und ihnen behilflich zu sein.

Und während des Weltkrieges?

Die deutsche Regierung wollte sich nicht in die Vorgänge im Osmanischen Reich einmischen, um die Türkei als Bündnispartner im Krieg nicht zu verärgern. Lepsius wollte dagegen über die Kirchen Druck auf die Regierung ausüben. 50 namhafte Vertreter der Evangelischen Kirche aus verschiedenen Teilen Deutschlands unterzeichneten im Oktober 1915 einen Brief an den Reichskanzler mit der Bitte, die Deportation der armenischen Bevölkerung zu unterbinden und die bereits Deportierten am Leben zu erhalten. Auf Anregung von Lepsius wandte sich auch der Missionsausschuss des Zentralkomitees für die Generalversammlung des Katholischen Deutschlands mit einer Eingabe an den Reichskanzler Bethmann Holweg. Am 6. Oktober 1915 aber erließ die deutsche Regierung eine Richtlinie, die der Presse und der Öffentlichkeit auferlegte, zur Lage der Armenier zu schweigen. Alle, auch die Kirchen, haben die Anforderung der Regierung befolgt. Nur Lepsius blieb eine Ausnahme. Er trennte sich deswegen sogar von seiner Gesellschaft, der Deutschen Orientmission. Er veröffentlichte vertraulich seinen „Bericht über die Lage des armenischen Volkes in der Türkei“ und nach dessen Versand an die deutschen evangelischen Gemeinden ging er nach Holland ins Exil.

Der Deutsche Bundestag hat 2015 eine Resolution zum Völkermord an den Armeniern verabschiedet und die Mitschuld Deutschlands bekannt. Wie bewerten Sie das?

Ich freue mich darüber, dass die Bundesrepublik ganz klar und deutlich die Mitschuld des deutschen Kaiserreiches anerkennt. Was die eigentliche Schuldfrage angeht, kann man aber keine zufriedenstellenden Formulierungen finden. Auch der Schlüsselsatz, wo das Geschehen als Völkermord bezeichnet wird, ist viel zu schüchtern formuliert, nicht klar und deutlich genug. Begrüßenswert ist aber die Absicht, die Erinnerung an die Opfer weiterhin zu pflegen. Allerdings gibt es einen inhaltlichen Fehler: Es ging, wie erwähnt, nicht um ethnische Konflikte, sondern es war eine politische Entscheidung. Es wäre wichtig, dass das auch so in den Schulbüchern dargestellt wird.

Wie kann Deutschland dazu beitragen, dass die Türkei den Völkermord anerkennt?

Vor allem durch eine weitere Resolution, wo die Schuld ganz eindeutig benannt wird, wie auch die Mitschuld bezeichnet worden ist, und wo der Bundestag die Türkei – den damaligen Bündnispartner des Deutschen Reiches – dazu auffordert, den Völkermord anzuerkennen.

Ist das angesichts der derzeitigen Beziehungen zwischen Deutschland und der Türkei überhaupt möglich?

Deutschland braucht sich deswegen nicht zurückzuhalten. Es haben inzwischen etwa 30 Länder den Völkermord an den Armeniern anerkannt und verurteilt. Und die türkische Regierung hat versucht, den möglichsten Druck auf all diese Länder auszuüben, hat gedroht, die diplomatischen Beziehungen zu diesen Ländern abzubrechen, hat öfters ihre Botschafter aus den betreffenden Ländern für eine Zeitlang zurückgerufen. Aber am Ende ist nichts weiter passiert. Die Türkei kann sich von der Weltgemeinschaft nicht isolieren. Das ganze Gebaren der Türkei hat auch gezeigt: Wenn so eine Resolution erst einmal verabschiedet ist, verhalten sich die Länder zueinander klarer. Ich würde sagen, dass das eine Grundlage für freundlichere Beziehungen ist, weil diese Frage nicht mehr offen im Raum steht. Es haben so viele Länder viel stärkere Resolutionen verabschiedet. Aber die des Deutschen Bundestages ist in einiger Hinsicht viel wichtiger.

Warum das?

Deutschland wird in der Türkei im gesellschaftlichen Denken als ein Freund gesehen, seit Jahrhunderten. Und wenn von diesem Freund ein Völkermord anerkannt wird und von einem Freund der Impuls an die Gesellschaft kommt, dann ist der viel einflussreicher, als wenn das von Russland, Frankreich oder anderen Staaten kommt, die damals Feinde der Türkei oder neutral waren.

Damals waren auch die Beziehungen zum Osmanischen Reich die offizielle Begründung, beim Genozid nicht einzugreifen. Hätte das Deutsche Reich etwas dagegen tun können, ohne das Bündnis zu riskieren?

Ja. Der türkische Kriegsminister selbst hatte die deutsche Regierung gebeten, die Türkei nicht bei der Durchführung der Deportationen zu behindern. Das ist ein Zeugnis dafür, dass die türkische Regierung damit rechnete, dass Deutschland das verbieten könnte. Zudem sind die von der türkischen Regierung befohlenen Deportationen in zwei Orten, nämlich in Smyrna und Mosul, durch die Intervention von zwei deutschen Befehlshabern erfolgreich unterbunden worden. Diese waren aber Sonderfälle und geschahen nicht aus humanen, sondern aus militärstrategischen Gründen.

Vielen Dank für das Gespräch!

Der Massenmord an den Armeniern

Im Osmanischen Reich lebten Ende des 19. Jahrhunderts über 2,5 Millionen christliche Armenier. Auch im angrenzenden Russischen Reich lebte eine armenische Minderheit. Nach dem verlorenen Krieg gegen Russland 1877/78 sah der türkische Sultan die Stabilität des ohnehin geschwächten Reiches gefährdet und unterstellte den Armeniern, mit Russland und anderen Mächten zu kooperieren. Bereits 1895/96 gab es deswegen Massaker an ihnen mit mehreren hunderttausend Toten. In dieser Zeit entstanden mehrere Hilfswerke zur Unterstützung der Armenier, etwa die „Deutsche Orientmission“ oder der „Deutsche Hilfsbund für Armenien“, der noch heute als „Christlicher Hilfsbund im Orient“ soziale Projekte in Armenien unterstützt.

1915/16 deportierte das türkische Militär mit Unterstützung kurdischer Milizen Armenier systematisch aus ihren Städten und Dörfern in die Wüste, folterte und ermordete sie dort oder auf dem Weg dahin. Frauen wurden häufig als Sklavinnen und Prostituierte gehalten und weiterverkauft. Bis zu 1,5 Millionen Menschen kamen dabei ums Leben. Durch seine Militärmissionen war das Deutsche Reich vor und während des Ersten Weltkriegs eng mit der Türkei verbunden. Deutsche Militärs beteiligten sich zum Teil aktiv an den Plänen und der Durchführung der Deportationen. Die Vernichtung der Armenier sei „hart aber nützlich“, befand ein deutscher Marineattaché. Die Reichsregierung duldete das Vorgehen, obwohl sie von den Grausamkeiten wusste. Besonders der Theologe Johannes Lepsius setzte sich dafür ein, die deutsche Öffentlichkeit aufzuklären. Die 1918 gegründete Republik Armenien umfasst nur einen Bruchteil des historischen Siedlungsgebietes der Armenier.

Dieser Text erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe 6/2018 des Christlichen Medienmagazins pro. Bestellen Sie pro kostenlos hier.

Die Fragen stellte Jonathan Steinert

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