„Deutschland braucht meeeeeeeeehr von Jesus“

Immer mehr katholische und evangelikale Charismatiker ignorieren frühere konfessionelle Gräben und suchen gemeinsam Gott. Eine Schlüsselfigur ist Johannes Hartl: Der Gründer des Gebetshauses Augsburg und Autor mehrerer Bücher begeistert Tausende mit seinen „Mehr“-Konferenzen.
Von PRO
Der katholische Theologe Johannes Hartl rief die Mehr-Konferenz 2008 ins Leben
Als Johannes Hartl die Bühne betritt, ist die Schwabenhalle in Augsburg mit mehr als 6.000 Menschen gefüllt. Die Luft ist warm und trocken, dutzende Scheinwerfer tauchen die Bühne in buntes Licht, malen verschiedene Muster an die Wände und erzeugen je nach Programmpunkt stimmungsvolle Effekte. Der 37-jährige katholische Theologe ist lässig mit Schal und Sakko gekleidet. Der Gründer des Gebetshauses Augsburg ist Gastgeber und Hauptsprecher der „Mehr“-Konferenz, die sich seit 2008, als sie mit weniger als 150 Besuchern startete, zu einer der größten christlichen Veranstaltungen entwickelt hat. In seiner Predigt spannt er einen Bogen von der aktuellen Weltpolitik hin zu der Sehnsucht jedes Einzelnen. „Viele Flüchtlinge, die nach Deutschland kommen, suchen das, was Pegida-Demonstranten zu verlieren fürchten: Heimat“, erklärt er. Die Christen in Deutschland seien in der Asyl-Frage gespalten, beide Seiten hätten berechtigte Anliegen – und Kritikpunkte. „Die Blauäugigen glauben, dass jeder Mensch gut ist, doch das ist nicht so“, erklärt Hartl. „Aber bei vielen Konservativen begegnet mir mitunter eine Härte und ein Pessimismus, der mich befremdet. Das schmeckt nicht nach Jesus.“ Er selbst sei keine linke Socke, sagt der Theologe, und das stimmt: Klar konservativ nimmt er zum Beispiel auf Facebook und Twitter Stellung zu Themen wie Gender-Mainstreaming und Homo-Ehe. Gegenüber Homosexuellen und Feministinnen sollten Christen auf ihre Wortwahl achten: „Diese Menschen spüren unsere Verachtung“, sagt er in seiner Predigt. „Sei anderer Meinung, aber sei es gebrochenen Herzens, weinend in der Sehnsucht darüber, dass diese Waisenkinder heimkommen zum Vater.“ Es sind berührende Worte, viele Besucher rufen „Amen“ oder haben Tränen in den Augen. Es folgt eine Zeit des Gebets, bei der sich die Zuhörer gegenseitig die Hände auf Schultern oder Rücken legen. Die Band spielt ergreifende Musik, als der ehemalige Jugendevangelist Walter Heidenreich die Bühne betritt. Er berichtet kurz, wie Gott ihn von der Drogensucht befreite, sagt dann zu Hartl: „Ich soll dir von Gott sagen: Du bist ein guter Sohn.“ Zweifellos: In Augsburg geht es auch um große Emotionen. Die Besucher der „Mehr“-Konferenz sind überwiegend jünger als 40 Jahre, 60 Prozent sind katholisch, der Rest setzt sich aus Landes- und Freikirchlern zusammen. Rund 1.000 Gäste sind aus dem europäischen Ausland angereist, 18 Dolmetscher übersetzen im Schichtdienst in acht Sprachen. Hervorgegangen ist die Konferenz aus der Arbeit des Gebetshauses Augsburg, das Hartl 2007 mit seiner Frau als Verein gründete. Seit 2011 wird dort rund um die Uhr gebetet, an jedem Tag des Jahres. 25 „Gebetshausmissionare“, die von Spenderkreisen leben, wechseln sich dort ab, drei Mitarbeiter sind fest angestellt. Hinzu kommen dutzende Studenten und Freiwillige. Viele Konferenzbesucher nutzen den Besuch in Augsburg und machen einen Abstecher ins Gebetshaus. Von außen unscheinbar steht es in einem Industriegebiet neben einem Autohandel; im Innern ist alles sehr modern eingerichtet. Die Büros sind bunt gestrichen, im Foyer hängen dutzende nackte Glühbirnen von der Decke. Im Gebetsraum im Obergeschoss halten sich über zwanzig Besucher auf, manche singen leise, andere sind sitzend oder liegend ins Gebet vertieft. Im Erdgeschoss gibt es ein schickes Café und eine Art Fanshop: Tassen und Taschen, Kulis und Schlüsselanhänger des Gebetshauses werden hier angeboten, dazu natürlich Bücher und CDs von Hartl. Sein 2014 erschienenes Buch „In meinem Herzen Feuer“ machte in evangelikalen Kreisen die Runde, pünktlich zur diesjährigen Konferenz ist „Gott ungezähmt“ erschienen. Auf 220 Seiten malt Hartl darin das Bild eines Gottes, der mehr mit den unberechenbaren und aufbrausenden Wellen des Ozeans gemein hat als mit einem „Kuschelgott“, wie ihn sich viele vorstellen. „Ein Gott, vor dem man nicht mehr erschrecken kann, ist schrecklich langweilig“, schreibt er. „Was man nicht fürchten kann, vor dem kniet man auch nicht nieder.“ In anderen von Hartls Werken wird es wieder praktisch: „Die Kunst, eine Frau zu lieben“ ist Hartls beliebtester Beziehungsratgeber, fast 120.000 Mal wurde der zugehörige Vortrag auf YouTube aufgerufen. Der Autor transportiert biblische Lehren kompromisslos und praktisch in das Leben seiner Leser und Zuhörer – das verdient Respekt in einer Zeit, in der viel zu oft unbequeme Inhalte relativiert werden. Geprägt sind Hartl und die Gebetshaus-Bewegung zum einen von der Charismatischen Erneuerung in der Katholischen Kirche, einer Bewegung, die ähnlich der Pfingstbewegung daran glaubt, dass Christen auch heute noch Geistesgaben wie Zungenrede und Prophetie haben können. Zum anderen gibt es Überschneidungen zur charismatischen Strömung in evangelikalen Freikirchen wie dem „International House of Prayer“ (Internationales Haus des Gebets) in Kansas City in den USA. So erklärt es sich auch, warum mit Johannes Hartl ein Katholik zu einer der gefragtesten Stimmen in der evangelikal-freikirchlichen Szene werden konnte.

Erst Eucharistie, dann Lobpreis

Wie vielseitig die Bewegung rund um Hartl und die „Mehr“ ist, zeigt sich in der enormen Bandbreite der Referenten. An einem Nachmittag spricht Stefan Oster, der katholische Bischof von Passau. Er geht auf philosophische Aspekte des Glaubens ein, erklärt aus seiner Perspektive die Unterschiede katholischer und protestantischer Frömmigkeit: „Evangelische reden subjektiv von Christus: Mein Herr, meine Entscheidung.“ Katholiken würden eher mit dienendem, hörendem Herzen an die Sache herangehen und mit Vernunft die objektiv gegebene Wirklichkeit erkunden. Am Morgen danach zelebriert Oster im Ornat die Eucharistiefeier, zahlreiche Besucher stellen sich an, um von seinen Helfern die Hostien zu empfangen. Das genaue Gegenteil von Oster ist der heimliche Stargast der „Mehr“, Heidi Baker. Am zweiten Tag der Konferenz ist die Halle bis auf den letzten Platz gefüllt mit Menschen, die neugierig sind auf die amerikanische Missionarin, die in Mosambik Waisenkinder beherbergt. Wer auf YouTube nach ihren Predigten sucht, findet Auftritte, bei denen sie weinend, singend und in Sprachen betend auf dem Boden liegt oder kniet. Bei einem Auftritt – Predigt kann man es schwerlich nennen – in der kalifornischen Bethel-Kirche liegen Jugendliche um sie herum. Heidi Baker kriecht durch die Reihen, legt ihnen die Hände auf den Kopf und ruft Worte wie „Feuer“. Die Betenden reagieren mit Schreien, Weinen und Zucken. Versammlungen in dieser Form sind für die charismatische Bewegung keinesfalls repräsentativ und stoßen nicht selten auf Ablehnung. Während die einen eine besondere „Salbung“ bei Baker erkennen wollen, halten andere sie für labil. Wieder andere sehen gar dämonischen Einfluss durch Baker und ihren extrem-charismatischen Dunstkreis, der hierzulande zuletzt mit der Evangelisation „Awakening Europe“ in Nürnberg für Aufsehen sorgte.

Ein Charme, der bei den Menschen ankommt

In Augsburg beginnt die dynamische 56-Jährige mit einer Art Meditation. „Komm, Jesus, komm“, ruft sie in einem Singsang, den das Publikum erwidert. Etwa eine Viertelstunde werden auf diese Weise die drei Personen der Dreieinigkeit herbeigerufen. „Gib mir Feuer, Herr, dass die Welt mich brennen sieht“, ruft Baker. In ihrer Predigt geht es dann darum, was es heißt, ein Kind Gottes zu sein: „Durch die Kraft des Heiligen Geistes bist du kein Waise, sondern in die Sohn- und Tochterschaft getreten.“ Jeder könne mit Jesus verbunden in „radikaler Freude“ leben, auch angesichts der Armut und der Krankheiten, die ihr bei der Arbeit in Afrika begegneten. Bakers Worte werden ergänzt durch Berichte von Heilungswundern, die sie zahlreich erlebt haben will – Blinde werden angeblich sehend, Lahme können gehen, wenn sich Baker vom Heiligen Geist leiten lässt. Gott habe ihr gesagt, sie solle einem Aussätzigen die Hand drücken und ihm auf den Fuß treten, und er sei gesund geworden, berichtet sie. Während Baker predigt, rennt plötzlich eine schreiende und weinende Frau auf sie zu, die im Bühnenbereich deutlich präsenten Sicherheitsleute schrecken auf. „Es ist okay, sie will nur beten“, sagt Baker, und predigt ungerührt weiter, während sie auf Knien zu der Weinenden kriecht und ihr die Hand auf den Kopf legt. Dem Vorwurf der Naivität stellt sich Baker am nächsten Morgen, als sie mit Hartl gemeinsam auf der Bühne steht. „Ich will im Glauben nicht wachsen, sondern immer kleiner werden vor Jesus“, sagt sie und räumt ein, dass ihr kindliches Wesen manche irritiere. Dabei hat Baker tatsächlich am rennomierten britischen King‘s College einen Doktor in Systematischer Theologie gemacht, doch Theorie ist der Amerikanerin nicht wichtig, sie will die Kraft Gottes spüren. „Ich habe es zehn Jahre mit Systematischer Theologie versucht, Sweet Jesus, ich habe es versucht“, ruft sie dramatisch, und driftet schon ab in die nächste Geschichte einer alten Afrikanerin, die plötzlich wieder sehen konnte. Hartls Versuche, seinem Gast ein paar Fragen zu stellen, führen nicht weit. Dem Publikum macht das nichts aus. Heidi Bakers Satzbrocken in gebrochenem Deutsch, ihre kleinen Scherze mit dem Dolmetscher, ihre Ausstrahlung und Präsenz verschmelzen zu einem entwaffnenden Charme, der auf die Massen wirkt und dem man sich auch als Skeptiker nicht so leicht entziehen kann. Ein mütterliches Kopfschütteln und die niedlich akzentuierte Diagnose „Du bist luustich“ sind ihre Antwort auf Hartls Frage, was ein Christ tun könne, der kaum Zeit zum Beten finde. Denn Beten, findet Baker, ist so selbstverständlich wie das Atmen.

Zeit mit Gott verbringen

Dass mit Heidi Baker zwar eine beliebte und bekannte, aber auch umstrittene Persönlichkeit eine prominente Rolle auf der „Mehr“-Konferenz spielt, war Johannes Hartl bewusst. Sorgfältig hatte er das Publikum auf ihren ersten Auftritt vorbereitet, erklärt, dass Menschen ganz unterschiedlich auf Gott reagieren, manche auch mit Lachen, Weinen oder Schreien. „Beim Fußball schreien wir, wenn ein Tor fällt, aber in der Kirche sagen wir zur großartigen Nachricht von Jesus nur leise Amen?“, kritisierte er die fromme Zurückhaltung. Keinem, der beim Sport laut juble, werde vorgeworfen, sich in etwas hineinzusteigern. Um mögliche Kritiker bereits im Vorfeld zu beruhigen, äußerte Hartl Verständnis für jeden, der mit Bakers „unplanbarem“ Frömmigkeitsstil fremdelt, und gab zu, dass es ihm zu Anfang auch nicht anders gegangen sei. „Aber sie zieht keine Show ab und spricht zu meinem Herzen“, erklärte er. „Es geht hier nicht um Wort und Predigt allein, sondern darum, dem Herrn zu begegnen.“ Damit fasst Hartl die „Mehr“-Konferenz, die sich für 2017 eine größere Halle wird suchen müssen, gut zusammen. Auf anderen christlichen Events geht es auch um Networking, Konzepte oder prominente Musiker. Hierher, so scheint es, kommen die Menschen in erster Linie, um Zeit mit Gott zu verbringen, dessen Gegenwart viele Besucher tatsächlich spüren können. Auch in den Pausen wird im Saal Lobpreismusik gespielt, Studenten beten mit Nonnen und Mönchen in Ordenstracht. Die Vorträge von Johannes Hartl, die auf der „Mehr“ die meiste Zeit in Anspruch nehmen, zielen auf den Alltag ab, wollen Impulse geben, wie der christliche Glaube über die Konferenz hinaus praktisch gelebt werden kann. Mit der „Mehr“ hat sich eine Konferenz etabliert, die praktische Theologie, bewegende Anbetungszeiten, Fürbitte und charismatische Frömmigkeit in allen Ausprägungen unter einem Dach zusammenführt. Es liegt auf der Hand, dass die Veranstalter es dabei nicht allen recht machen können: Für die einen sind zu viele katholische Elemente enthalten, für die anderen zu extrem-charismatische Ausdrucksformen präsent. Die inhaltsstarken und fundierten Vorträge von Johannes Hartl sprechen eine breitere Zielgruppe an als eine Person wie Heidi Baker, die für einige Lichtgestalt ist, für viele andere aber bestenfalls ein Kuriosum bleiben wird. Hartl hofft auf die integrative Kraft des gemeinsamen Gebets: „Hier sind ganz viele konservative Katholiken, Bischöfe, lutherische Christen, freikirchliche Christen, wir können bis ans Ende der Zeit über Formen diskutieren. Aber lasst uns heute gemeinsam tun, was wir gemeinsam tun können, und beurteilen wir einander am Geist Gottes“, ist sein Wunsch. Der ökumenische Charakter ist ein Aspekt der „Mehr“, der nicht unterschätzt werden sollte. Die Amtsträger sowohl der Katholischen Kirche als auch der Evangelischen Kirche in Deutschland betonen oft ihre Gemeinsamkeiten und suchen nach Projekten, die in Kooperation gestaltet werden können. Weit sind sie dabei noch nicht gekommen. Die Evangelikalen stehen der katholischen Kirche in manch ethischer Frage näher als den evangelischen Landeskirchen. Andererseits fallen für sie typisch katholische Lehren wie die Marien- und Heiligenverehrung sowie das Papsttum schwerer ins Gewicht als für viele relativ liberale Landeskirchler. Der Weg zur Ökumene ist nicht leicht. Dass nun ausgerechnet die charismatische Szene Brücken zwischen den Lagern baut, lässt aufhorchen. Die Konferenzteilnehmer sind sich ihrer Unterschiedlichkeit durchaus bewusst, evangelisches Abendmahl und katholische Eucharistie werden getrennt angeboten. Im Vordergrund aber steht eine Gemeinsamkeit: Die Sehnsucht nach mehr von einem großen Gott, der jeden persönlich anspricht. (pro)

Dieser Artikel ist der Ausgabe 1/2016 des Christlichen Medienmagazins pro entnommen. Bestellen Sie pro kostenlos und unverbindlich unter Telefon 06441 915 151 oder online.

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