Der Beitrag basiert auf zwei Umfragen, die TNS Infratest am 6. und 7. Juli für das Magazin durchgeführt hat. Sie kommen zu dem Ergebnis, dass Altkanzler Helmut Schmidt heute der meistrespektierte Deutsche der Deutschen ist. "Für 83 Prozent der Bundesbürger verkörpert Helmut Schmidt das Deutschland, das sie sich wünschen. Und er genießt die höchste Achtung als moralische Instanz. Einem inzwischen 91-jährigen Kettenraucher wird mehr Vertrauen entgegengebracht als dem Rest der politischen Klasse. Vom Papst ganz zu schweigen", schreibt das Magazin.
Wem vertrauen die Deutschen?
Der "Spiegel" hat herauszufinden versucht, wem die Bundesbürger "nach den Enttäuschungen der letzten Monate" noch vertrauen, wer als moralische Instanz bestehen bleibt. Das Ergebnis sei erstaunlich, wundert sich "Spiegel"-Autor Alexander Smoltczyk. Es zeige ein Land, in dem einem Quizmaster genauso viel Vertrauen entgegengebracht werde wie dem Papst. "Wenn es nach den Bürgern ginge, dann säße Günther Jauch im Schloss Bellevue, und nicht Christian Wulff", schreibt er. "Der allgegenwärtige und allwissende Fernsehmann ist für 84 Prozent der Befragten ein Deutscher, der als Vorbild taugt." Auf die Frage: "Wer verkörpert ein Deutschland, wie Sie es sich wünschen?", erhielt Günther Jauch die meiste Zustimmung, gefolgt von Helmut Schmidt (83 %) und Joachim Löw (82 %). Die Bundesminister Ursula von der Leyen und Karl Theodor zu Guttenberg erhielten jeweils 66 Prozent, vor Christian Wulff (61 %) und Angela Merkel (59 %). Die Kanzlerin wiederum erhielt genauso viel Zustimmung wie Thomas Gottschalk. Mesut Özil (52 %), Margot Käßmann (51 %) und Lena Meyer-Landrut (50 %) liegen weit vor Papst Benedikt (35 %). Der Chef der Deutschen Bank, Josef Ackermann, schafft es mit 18 Prozent auf den vorletzten Platz dieser Liste, direkt vor dem umstrittenen Rapper Bushido (9 %).
Frank Schirrmacher, der Herausgeber der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung", sieht in den Umfragezahlen einen Schrei der Bürger nach moralischer Autorität – und die Unfähigkeit der meisten Politiker, dieser Aufgabe gerecht zu werden, berichtet der "Spiegel". Schirrmacher lese die Zahlen als Alarmsignal.
Geht es um die Frage: "Wer ist eine moralische Instanz für Deutschland?", erzielt Helmut Schmidt 74 Prozent und liegt damit vor Horst Köhler (66 %). Bei diesem Kriterium befindet sich Günther Jauch mit 50 % direkt hinter Papst Benedikt XVI. (51 %) und knapp vor Margot Käßmann (49 %). Ursula von der Leyen erhält in dieser Umfrage 60 Prozent und liegt damit weit vor Altkanzler Gerhard Schröder (23 %).
Ursula von der Leyen äußert dem "Spiegel" gegenüber, dass es im Grunde immer nur um das eine gehe, wenn man sich Respekt beim Wähler erarbeiten wolle: "Steh auf, und geh, mach etwas. Sei standhaft, und erreiche das Ziel". Das schlechte Ergebnis von Altkanzler Schröder kommentiert Günter Jauch in dem Magazin so: "An dem Ergebnis von Schröder ist Gazprom schuld. Das kam zu früh." Schröder hätte den Job bei dem russischen Energiekonzern nicht so schnell annehmen sollen. Das habe ihn den Ruf gekostet.
Gebrochene Lebensläufe werden respektiert
Wobei die Deutschen durchaus gebrochene Lebensläufe respektierten, ergänzt Smoltczyk und verweist auf Margot Käßmann. Ihr Rücktritt "nach trunkener Fahrt" habe sie nur noch populärer gemacht. Sie könne sich heute für jedes hohe Amt bewerben. Der Bürger wolle keine Unbefleckte, er wolle die Ehrlichkeit und den Mut, der damit verbunden ist.
Diese Tugenden scheinen im aktuellen politischen Tagesgeschehen eher die Ausnahme zu sein. Die Studie zeige einen Überdruss an der herkömmlichen Politik, heißt es in dem Beitrag. Sie zeige zugleich einen Respekt der Deutschen vor Persönlichkeiten, die bei aller Wendigkeit ihren Job gut machten, unideologisch und quer zu den alten Schemata. Im Hinblick auf die Frage nach der moralischen Instanz kommentiert das Magazin: "Joachim Gauck wird als moralische Autorität höher geschätzt als der Parteikarrierist Christian Wulff, und fast rührend ist die Anhänglichkeit der Bürger an Horst Köhler, Wulffs Vorgänger." Gauck erreicht bei dieser Bewertung 53 Prozent, Wulff 37 Prozent und Köhler gar 66 Prozent.
Joachim Löw wiederum begegnet dem allgemeinen Wunsch nach Leichtigkeit. "Der Auftrag lautet: Spielt effizient, tut etwas, wechselt das Personal", schreibt der "Spiegel". Joachim Löw habe das auf dem Rasen vorgeführt. Ihm würde das in der Umfrage hoch angerechnet, in der Rangliste der vorbildlichen Deutschen stehe er auf Platz drei.
Der "Spiegel" fasst zusammen: "Von wem also wollen sich die Deutschen vertreten sehen? Der ideale Deutsche, von Deutschen gesehen, ist leichtfüßig wie Mesut Özil, fehlbar wie Margot Käßmann, pragmatisch wie Angela Merkel, unprätentiös wie Günther Jauch, konsequent wie Jogi Löw, unbeschwert wie Lena Meyer-Landrut, abgeklärt wie Helmut Schmidt." (pro)