Die Geschichte Europas wird häufig vereinfacht so dargestellt: Nachdem das Christentum als Religion der Underdogs die römisch-griechische Götterwelt überwand, wurde es im Mittelalter durch seine Nähe zur Macht zunehmend korrumpiert. Erst die Reformation und schließlich die Aufklärung befreiten Europa aus der dunklen Umklammerung der Kirche. Die Wiederentdeckung der Antike führte zum Fortschritt bis in die heutige Zeit. Daran stimmt einiges, unterschlägt jedoch nach der Auffassung des Schriftstellers Tom Holland die anhaltende Wirkung der christlichen Botschaft.
Der Agnostiker Tom Holland ist zwar christlich aufgewachsen, doch seine Interessen haben sich früh auf die Zeiten konzentriert, in denen die Bibel noch nicht so eine große Rolle spielte. Erstens fand er Rom und Griechenland mit seinen Kaisern und Göttern schon als Heranwachsender ungleich glamouröser als das biblische Israel. Zweitens liebte er Dinosaurier, und die fanden in der Bibel auch nicht den Platz, die sie im Herzen eines kleinen Jungen wie Tom Holland hatten. Bei seinen intensiven Studien besonders über das Römische Reich machte Tom Holland aber Entdeckungen, durch die Rom und Griechenland für ihn zu Dinosauriern wurden, die nichts mehr mit unserer heutigen Lebenswelt zu tun haben.
Die „größte Geschichte aller Zeiten“
Ausgangspunkt seiner Überlegungen ist die Grausamkeit und Fremdheit der römischen Kultur. Grundlage des angenehmen Lebens der Herrschenden in der antiken Welt war die Arbeit von Sklaven. Diese Ordnung zu schützen war nicht einfach, und die Menge ihrer Sklaven war für die Römer Anlass für ein erhebliches Maß an Paranoia. Die Hinrichtungs- und Foltermethoden boten daher alles an Demütigung, Schmerz und Schande auf, was menschlich denkbar war. Die Kreuzigung, die im Römischen Reich vor allem Sklaven vorbehalten war, war eine davon.
Die Nachricht vom Tod Gottes am Kreuz und seiner Auferstehung stellte die antike Welt auf den Kopf. Holland vergleicht diese Botschaft mit einer Unterwasserexplosion, die zunächst unbemerkt tief unter der Wasseroberfläche stattfindet und deren Druckwelle erst später zu spüren ist. Der Wasserspiegel mag im Jahr 33 noch friedlich und unbewegt gewesen sein, aber schon einige Jahrzehnte später war alles in heftiger Bewegung und die Gesellschaft begann, sich zu verwandeln. In seiner unterhaltsam geschriebenen Recherche geht es Tom Holland primär nicht um die historische Glaubwürdigkeit der biblischen Schriften, sondern um die Druckwelle, die sie erzeugen. Er verfolgt ihre Wirkung bis in die heutige Zeit. Für ihn ist diese Entwicklung die „größte Geschichte aller Zeiten“.
Er geht dabei chronologisch vor. Schon seine Gliederung zeigt, dass er die eingangs zitierte Vereinfachung der Geschichte Europas so nicht teilt. Dass der Begriff „Mittelalter“, der ursprünglich abwertend gemeint war, überhaupt nicht mehr bei ihm vorkommt, ist Programm. Mit diesem Begriff verunglimpfte man in der frühen Neuzeit eigentlich die Zeit, die die Menschen damals von der Antike trennte. Im Gegensatz dazu zeigt Holland, wieviel uns heute von der Antike trennt und dass stattdessen vieles von dem, was den Westen heute noch prägt, aus der so gescholtenen Zeit „dazwischen“ stammt. Der relevanteste Hügel für die geistesgeschichtliche Entwicklung des Westens ist weder die Akropolis noch das Kapitol, sondern Golgatha.
Ambivalentes Christentum
So ist die Säkularisierung nicht erst das Ergebnis der Aufklärung, sondern beginnt bereits mit den Bestrebungen des Papstes Gregor VII., eine korrumpierte Kirche von weltlichen Einflüssen zu befreien. Wissenschaft, wie wir sie heute verstehen, entstand aus dem Wunsch, eine Welt zu verstehen, die von Gott nach bestimmten Gesetzen geschaffen war. Religiöse Toleranz hat sich in der Reformationszeit herausgebildet, weil sonst die Christenheit gar nicht mehr aus dem Krieg der Konfessionen herausgefunden hätte. Es waren jeweils die Christen selbst, die diese Bewegungen anstießen. Besonders hebt Holland aber das Engagement für die Armen und Schwachen hervor. Im Vergleich mit den Römern, die sich für die Armen und Schwachen nicht interessierten, ist die Sorge für die Benachteiligten der Gesellschaft bis heute ein markantes Kennzeichen des Christentums und häufig auch der Ausgangspunkt für Erneuerungsbewegungen.
Falls das wie eine durchgehende Rechtfertigung des Christentums klingt: Tom Holland stellt diese Entwicklungen sehr ambivalent dar und beschönigt nichts. In der folgenden Passage beschreibt Holland sehr treffend die Wechselwirkung aus Unterwerfung und Emanzipation, die sich zum Beispiel in der Kolonialzeit häufig wiederholte und vielleicht typisch sind:
„…immer wieder leitete sich die Zuversicht, welche die Europäer dazu befähigte, sich jenen überlegen zu fühlen, die sie verdrängten, aus dem Christentum ab. Doch immer wieder war es im Kampf darum, dieser Anmaßung die Stirn zu bieten, ebenfalls das Christentum, das den Kolonisierten und Versklavten ihre markanteste Stimme verlieh. Es war zutiefst paradox. Keine anderen Eroberer, die sich Reiche aneigneten, hatten das im Dienste eines Mannes getan, der auf Befehl eines Kolonialbeamten zu Tode gefoltert worden war. Keine anderen Eroberer, die verächtlich die Götter anderer Völker abtaten, hatten an deren Stelle eine anzubetende Gottheit eingesetzt, die so ambivalent war, dass sie die Idee von Macht an sich problematisch werden ließ. Keine anderen Eroberer, die das Ihnen eigene Verständnis des göttlichen exportierten, hatten so erfolgreich Völker rund um den Globus davon überzeugt, dass ihre Religion von universeller Bedeutung war.“
Tom Holland: „Herrschaft“
Das waren nur einige Schlaglichter auf Tom Hollands spannendes, gut komponiertes und erzähltes Buch. Seine Grundannahmen sind keineswegs neu, aber sie wurden lange nicht mehr in so eindrücklicher Form präsentiert. In der angelsächsischen Welt werden Hollands Thesen intensiv diskutiert. Es wäre gut, wenn wir uns auch in Deutschland von seinem Bild des Westens inspirieren ließen.
Von: Sigmar von Blanckenburg
Tom Holland: „Herrschaft – Die Entstehung des Westens“, Klett-Cotta, 619 Seiten, 42 Euro, ISBN 3608983562.
2 Antworten
Wer seine Wurzeln und Wertefundamente kennt, der ist in der Lage verantwortliche Entscheidungen für eine menschliche Zukunft zu treffen:
„… damit wir nicht mehr unmündig seien und uns von jedem Wind einer Lehre bewegen und umhertreiben lassen
durch das trügerische Würfeln der Menschen, mit dem sie uns arglistig verführen.
Lasst uns aber wahrhaftig sein in der Liebe
und wachsen in allen Stücken zu dem hin,
der das Haupt ist,
Christus.“
Gerne empfehle ich deshalb ein weiteres wertvolles Buch: „Jesus, – eine Weltgeschichte“
von Dr. Markus Spieker.
https://www.pro-medienmagazin.de/1000-seiten-jesus-eine-zumutung-die-sich-lohnt/
Leseprobe:
https://www.scm-shop.de/media/import/mediafiles/PDF/204188000_Leseprobe.pdf
Leider hatte ich noch keine Zeit, das Buch von Markus Spieker auch zu lesen. Aber es ist schon auffällig, dass sich die beiden da gleichzeitig ein ähnliches Projekt vorgenommen haben. Liegt das gerade in der Luft? Durch die inneren und äußeren Herausforderungen, denen sich der Westen gegenübersieht, ist der wahrscheinlich der Druck größer, sich mit seinen Wurzeln auseinanderzusetzen.