Der verwandelte Atheist

Bernd Merbitz wurde als Atheist erzogen und war Mitglied in der SED. Heute ist der Polizeipräsident von Leipzig bekennender Katholik. Porträt eines Mannes der Gegensätze.
Von PRO
Merbitz in Uniform: Damit geht auch hin und wieder in die Kirche
DDR. 1987. Es sollte die letzte Nacht im Leben von Bernd Merbitz‘ Vater sein. Schwer krank ist er, liegt in einer Klinik, bekommt Morphium. Als Sohn und Vater abends allein im Krankenzimmer sind, sagt der Vater mit schwacher Stimme: „Junge, pass auf, es läuft nicht alles so in dem Staat, wie ich es dir erklärt habe.“ Am nächsten Morgen kommt Bernd Merbitz zeitig ins Krankenhaus und erfährt: Sein Vater ist über Nacht gestorben, mit nur 57 Jahren. Dass er nicht bei ihm geblieben ist, bereut er. „Das war ein Fehler in meinem Leben“, bekennt Merbitz heute. Tränen stehen ihm in den Augen. Das Verhältnis von Merbitz zu seinem Vater, einem SED-Mitglied, war teils getrübt, auch weil der Sohn nicht immer „linientreu“ war, wie es sich der Vater gewünscht hätte. Unter dessen frühem Tod leidet er bis heute. Mit dem Ende des Lebens umzugehen, lernte Merbitz in der DDR nicht. Genau dort fehlte ihm rückblickend sein Glaube und die Kirche. Merbitz wurde zwar evangelisch getauft, aber atheistisch erzogen. Warum er getauft wurde, das weiß er nicht. „Kirche war für mich: Ja, die gibt es, aber mehr auch nicht.“ Die Frage nach dem Sinn der Taufe verwarf er als Jugendlicher schnell wieder.

Jeden Sonntag zum Gottesdienst – mal mit, mal ohne Uniform

Heute ist der 58-Jährige überzeugter Katholik. Deswegen freut sich Leipzigs Polizeipräsident, dass er mit dem Blick aus seinem Bürofenster dem Bau einer neuen katholischen Kirche zusehen kann: „Und das auf dem Lutherring (Straße in Leipzig, Anm. d. Red.)“. Seine Kollegen neckt er: „Jungs, ab nächstem Jahr geht es uns gut, zumindest mir. Ich kann noch so einen großen Blödsinn hier machen, dann gehe ich gleich rüber zur Beichte und komme völlig entspannt wieder raus.“ Jede Woche beichten geht er nicht, „aber immer sonntags zum Gottesdienst“. Mal mit, mal ohne Uniform. Je nach Terminlage. Seine Heimatgemeinde hat er im Süden von Leipzig. Auch im Urlaub gehen er und seine Frau in die Heilige Messe, egal ob in Brasilien oder Rom, sagt der Fan von Papst Franziskus. Den Pontifex würde er gerne einmal treffen. Einen Brief hat er ihm bereits geschrieben. „Er verkörpert Demut und geißelt auch ein wenig den Reichtum. Was ich gut an ihm finde: Er geht auf alle Menschengruppen zu.“ Sein Glaube ist dem Polizeipräsidenten wichtig, aber er wollte ihn für sich privat halten. Dass seine Spiritualität in der Presse als etwas Besonders hervorgehoben wird, „Polizeipräsident ist jetzt katholisch“, äfft er nach, das wollte er nicht. Aber es kam anders. Vergangenes Jahr fragte ihn der Bischof, ob er nicht mit nach Bonn zum Zentralkomitee der deutschen Katholiken kommen wolle, um für Leipzig als Gastgeberstadt des Katholikentags zu werben. Merbitz willigte ein, dachte, er solle über die Sicherheit in Leipzig sprechen. Doch als er in Bonn vor dem über 200 Mann starken Komitee stand, ging es um seinen Lebensweg: Volkspolizist, SED, warum er Katholik wurde. Großen Bammel habe er in der Situation gehabt. Als er seine Geschichte zu Ende erzählt hatte, war es in dem Raum mucksmäuschenstill. Dann prasselte der Applaus los. Und Leipzig gewann die Wahl um den Austragungsort des Katholikentags 2016. Vor diesem Auftritt mit so vielen Zuschauern war Merbitz bange. Angst, Mut, ein warmes Lachen, eine strenge Ansage. Dieses Auf und Ab zeichnet Treffen mit Merbitz aus. Vom sanftmütigen Schwärmen über seinen Glauben braust er blitzschnell auf, erhebt seine Stimme, wenn ihn etwas aufregt, er gehört werden will. „Manche sagen, der Merbitz ist ein harter Hund – stimmt, kann ich sein“, poltert er. Und er lässt auch gerne mal ein Schimpfwort fallen. Dann säuselt er fast: „Aber ich bin genauso sentimental, wenn ich sehe, dass Leuten Unrecht geschieht oder Menschen behindert, benachteiligt sind oder arm sind. Da zerbricht es mir fast das Herz.“ Sein Blick und seine blaugrauen Augen wirken müde. Doch wenn Merbitz lacht, breitet sich seine Herzlichkeit über das ganze Gesicht aus.

„Kann ich in meinem Alter noch katholisch werden?“

Merbitz ist in zweiter Ehe verheiratet. Seine Frau, die jünger ist als er und auch bei der Polizei arbeitet, ist ebenfalls katholisch. Im Laufe der Ehe entschloss sie sich dazu, wieder regelmäßig in die Kirche zu gehen. Ob er was dagegen hätte, wollte sie von ihrem Mann wissen. Hatte er nicht. Irgendwann fragte sie ihn, ob er mitkomme in die Kirche. „Nee, mach ich nicht“, antwortete er ihr. Rückblickend verrät er: „Ich wollte eigentlich. Aber gerade weil die mir das gesagt hat, meinte ich: Nee, mach ich nicht.“ Mitgegangen ist er dann trotzdem, samt der beiden Töchter. „Dann ging alles schief“, übertreibt Merbitz im Scherz. Als seine Frau niederkniete und sich bekreuzigte, bevor sie in die Bankreihe ging, stieß er mit ihr zusammen und stolperte über ihre Beine. Er wäre fast über die Bank geflogen, amüsiert er sich rückblickend. Während der Messe wird er andächtig. „Ich hab da so zugehört“, dann hält er inne, „da war bei mir der Gedanke, da gibt es doch etwas“. Das, was er in der DDR gelernt hatte, das könne nicht alles sein. „Da gibt es doch noch viel mehr. Warum haben die Leute so einen Glauben?“ Der Gottesdienst begeisterte ihn regelrecht. Die Menschlichkeit des Pfarrers beeindruckte ihn. Er fragte sich: „Warum bin ich nicht so? Das, was er erzählt, will ich doch eigentlich auch.“ Fragen nach dem Glauben ließen ihn nicht los. Er ging zum Pfarrer und wollte wissen: „Kann ich in meinem Alter eigentlich auch noch katholisch werden?“ Der Würdenträger bejahte. Ein ganzes Jahr lang traf er sich mit dem Pfarrer jede Woche abends zwei, drei Stunden zum Firmunterricht. Der erklärte ihm die Bibel, das Kirchenjahr. Das tat Merbitz gut. „Wenn Sie in der Kirche sind, haben Sie kein Schild hinter sich, wo drauf steht, Polizeipräsident, Großverdiener, Kleinverdiener. Da sind alle gleich. Das ist toll.“ Getauft werden musste Merbitz nicht mehr, das hatte er ja bereits als Kind erlebt. Sein Glaubensleben begann mit der Firmung. „Da war ich aufgeregt. Das wird ja überall bekannt gegeben. Das war gut.“ Seit 2012 ist er offiziell Katholik.

Wilde Zeit mit Jimi Hendrix, langen Haaren und Westsendern

Glaubensfragen bewegten Merbitz zu DDR-Zeiten nicht. Während seiner „Sturm- und Drang-Zeit“, wie er sie nennt, die im Alter von 16 Jahren begann und bis 18, 19 dauerte, war ihm wichtig, was er mit seinen Kumpels unternahm. Seine Haare trug Merbitz damals lang, auch wenn das verpönt war. Jimi Hendrix hatte es ihm besonders angetan: „Einer der begabtesten Gitarrenspieler, die wir überhaupt hatten“, schwärmt Merbitz. Wenn irgendwo eine Band spielte, trampte er hin. „Stern Combo Meißen, Karat, City, Horst Krüger Band – also zu allem, was Rang und Namen hatte, sind wir quer durch die DDR gereist. Ich hatte meinen grünen Parka und dann sind wir los und irgendwann am Wochenende wiedergekommen.“ Gemeinsam hörten er und seine Freunde Westsender, Radio Luxemburg, die Hitparade beim Deutschlandfunk. Einmal setzte die Jungen-Clique einen Brief an die Deutschlandfunk-Hitparade auf, reichte ihn in der Klasse herum, alle sollten unterschreiben. Ein Mitschüler verpfiff die Jungs, dann gab es richtig Ärger mit dem Schuldirektor. Für Merbitz war das Spaß, aber nicht politisch, sagt er. Beruflich hatte sich Merbitz in seiner Jugendzeit nicht festgelegt: „Zum Teil waren die Pläne auch etwas gesteuert. Ich hatte damals eigentlich gar keine richtige Idee, was ich werden wollte.“ Schließlich lernte er Maschinen- und Anlagenmonteur spezialisiert auf Rohrleitungs- und Behälterbau. Da es danach nicht mit einer Offizierslaufbahn in der DDR-Armee als Fallschirmjäger oder Kampfschwimmer klappte, ging er Anfang 1975 unmittelbar nach seiner Lehre zur Polizei. Freitags ausgelernt, montags bei der Polizei. Sein Herzenswunsch war das allerdings nicht. Er musste seine geliebten langen Haare abschneiden, manche seiner Kumpel distanzierten sich von dem „Bullen“. Mit dem Eintritt in die Polizei musste er als Getaufter notariell erklären, dass er aus der Kirche ausgetreten sei, und obligatorisch in die SED eintreten – was er tat. Merbitz machte Karriere: Streifenpolizist, Wachtmeister, Leiter der Morduntersuchungskommission Leipzig. Im Laufe des Jahres 1989 wurde ihm eine leitende Stelle verweigert, weil seine Schwiegerfamilie aus erster Ehe zu viel Post und Besuch aus dem Westen bekam. „Sippenhaft war das“, empört sich Merbitz. Er schrieb seine Kündigung aus dem Polizeidienst, was für ihn wahrscheinlich das Ende seiner Karriere bedeutet hätte. Ein Mitarbeiter aus dem Ministerium für Staatssicherheit bekam das mit und meinte zu ihm sinngemäß: Das kannst du lassen, es ist vorbei. Die DDR wird über kurz oder lang nicht mehr existieren.

Zweifel am System

Die Zweifel am System wuchsen bei Merbitz kurz vor der Wiedervereinigung. Als ein Mitarbeiter der Stasi vorschlug, einen verwundeten Demonstranten verbluten zu lassen, war das für Merbitz der Bruch mit dem System. Dass es selbst in den eigenen Reihen Inoffizielle Mitarbeiter gegeben habe, das habe Merbitz damals nicht gewusst, „ob das heute einer glaubt oder nicht“. Im Herbst 1989, genauer benennt Merbitz es nicht, seien er und alle seine Kollegen der Morduntersuchungskommission „relativ zeitig aus der SED ausgetreten“. Die Zeit zwischen 1989 und 1990 sei schwer darzustellen, ohne ein verzerrtes Bild zu zeichnen, erklärt Merbitz. Kritik bekam er etwa für Aussagen in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung im August 1990. Darin sagte er, dass Bürgerrechtler in der zukünftigen Verwaltungslandschaft keine Rolle spielen würden, sondern Menschen wie er, die sich den veränderten Bedingungen anzupassen wüssten. Als die Deutsche Einheit kam, übernahmen Beamte aus den alten Bundesländern Dienststellen, und prüften, wer zu welchen Bedingungen übernommen werden kann. Über eine Geschichte aus dieser Zeit hat der Polizist den Mini-Krimi „Spurlos verschwunden“ geschrieben, der Ende Oktober in der Krimisammlung „Stammtischmorde“ erschienen ist. Sein Text sei „ein kleiner Wiedervereinigungskrimi“, der auf wahren Tatsachen beruht. Die Geschichte um einen Mord liegt rund 24 Jahre zurück. Es sei das erste Mal gewesen, dass eine Mordkommission aus den alten Bundesländern und aus Leipzig zusammengearbeitet hätten. Merbitz wechselte nach der Wiedervereinigung zum Landeskriminalamt. Im Jahr 2000 trat er in die CDU ein, ein Bekannter hatte ihn überredet. Der Kampf gegen politisch motivierte Gewalt ist eines seiner Steckenpferde. 2009 zeichnete ihn der Zentralrat der Juden in Deutschland mit dem Paul-Spiegel-Preis für Zivilcourage aus, der damals erstmals verliehen wurde. Das machte Merbitz stolz und er sah dies als Bestätigung, diesen Kampf weiterzuführen, auch wenn ihn Vertreter aus der rechtsextremen Szene immer wieder bedrohen. Nach mehreren Stationen wurde Merbitz im Frühjahr 2012 schließlich Leipzigs Polizeipräsident und ist es bis heute.

„Warum ich nicht evangelisch geworden bin? Ich wollte keine Cola Light.“

Merbitz sitzt in seinem Büro der Leipziger Polizeidirektion. Er trägt seine dunkelblaue Uniformjacke mit den Rangabzeichen. Unter seinem weißen Hemd hat er eine Kette mit kleinen Medaillen, die katholische Heilige zeigen, versteckt. Die trägt er immer. Auf seinem Schreibtisch steht eine kleine unscheinbare Flasche. Darin ist Weihwasser. „Das Weihwasser gehört dazu. Davon nehme ich einen Tropfen, der kommt auf die Stirn und dann bete ich.“ Als bibelfest bezeichnet er sich nicht. Einmal fragte ihn ein evangelischer Pfarrer, warum er nicht evangelisch geworden ist. Merbitz entgegnete: „Ich wollte nicht Cola Light haben.“ Dann lacht er los. Merbitz ist für die Ökumene: „Uns verbindet doch eins, das ist der Glaube und der ist nicht unterschiedlich.“ Sein Glaube habe ihn dazu bewegt, menschlicher mit seinen Bediensteten umzugehen. Er gibt ihm Kraft. Merbitz sagt: „Das, was ich einmal im wahrsten Sinne nicht glaubte, davon lasse ich mich nicht abbringen. Ich glaube an Gott.“ Für seinen Ruhestand kann sich der Polizeipräsident vorstellen, Theologie zu studieren, „weil ich das alles viel besser verstehen will“. Manchmal fragt er sich selbst, warum er nicht früher zum Glauben gekommen ist. (pro)
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