Der Tod, den es nicht gibt

Der Berlinale-Wettbewerbsbeitrag „Tótem“ erzählt von der Verdrängung des Todes. Ein Film, der uns alle angeht und vielleicht deshalb bereits als einer der Bären-Favoriten gehandelt wird.
Von Anna Lutz

Ein unbeschwerter Mutter-Kind-Ausflug. Eine etwa 8-Jährige und ihre Mutter scherzen in der Kabine einer öffentlichen Toilette herum, bis draußen eine Frau laut gegen die Tür hämmert und die beiden zur Ordnung ruft. Szenenwechsel: Die beiden fahren im Auto, die Mutter sagt: „Los, wünsch dir was.“ Das Kind überlegt und erwidert: „Ich will, dass Papa nicht stirbt.“

Stille.

Es ist genau diese verrückte Gemengelage irgendwo zwischen lautem Lachen mitten im Trubel und tiefem Schmerz in trauriger Stille, die „Tótem“ zu einem der bewegendsten Wettbewerbsbeiträge der diesjährigen Berlinale macht. Der mexikanisch-dänisch-französische Film von Lila Avilés erzählt von Familienzusammenhalt und unbändiger Freude, aber auch von einer Verdrängung des Todes, an der unsere Gesellschaft leidet.

Denn als es im Auto ruhig wird, ganz zu Beginn dieses Films, sind Mutter und Tochter unterwegs zur Geburtstagsfeier ihres Ehemannes beziehungsweise Vaters. Tona ist Maler und wird an diesem Tag 27 Jahre alt. Es wird sein letzter Geburtstag sein. Er ist schwer an Krebs erkrankt. Die Krankheit ist so weit fortgeschritten, dass er auf ständige Hilfe angewiesen ist, nur gestützt laufen kann und schreckliche Schmerzen leidet. So lebt er in einem verdunkelten Zimmer seines Elternhauses vor sich hin. Offenbar fernab von Frau und Kind.

Hartes, unfassbares Leid

Regisseurin Avilés konfrontiert den Zuschauer in wenigen Szenen mit diesem Leid, trifft aber mit jedem Bild tief ins Herz. Etwa, wenn Tona schrecklich abgemagert unter der Dusche steht. Wenn seine Krankenschwester ihn fragt, ob er heute eine Windel tragen möchte und er ablehnt. Nur um einige Zeit später festzustellen, er habe sich in die Hose gemacht. Dieser Blick ist gnadenlos echt und zeigt: Wir sehen solche Bilder selten. Sonst könnten sie die Zuschauer nicht derart verstören.

Und doch sind sie nur Randerscheinungen des eigentlichen Plots: Denn der dreht sich darum, dass die Familie, Vater, Schwestern, Brüder, Neffen und Nichten, eine große Party für Tona geplant haben. Ein riesiges Fest mit Torte und Aufführungen, Himmelslaternen und Musik. Ob das in Tonas Sinne sein kann, der sich im Nebenraum vor Schmerzen kaum auf den Beinen halten kann, scheint keine Rolle zu spielen. Ein Fest soll Familie und Freunde noch einmal ihm zu Ehren zusammenbringen.

Man könnte das für eine liebevolle Art, Abschied zu nehmen, halten, wäre da nicht die Tochter Tonas, die im Film beständig fragt, wann sie denn endlich zu ihrem Vater können und dauernd mit den Worten abgewiesen wird, er müsse sich für das Fest ausruhen. Das Kind scheint einzig zu wissen, dass die Zeit mit ihrem Vater begrenzt ist und Feiern weit weniger wichtig sind als das einfache Zusammensein.

„Ich wollte nicht, dass du mich siehst“

Als sie schließlich zu ihrem Vater gelassen wird, strotzt diese Szene von Liebe und Wertschätzung. Das Kind stellt fest: „Du bist dünn.“ Und der Vater sagt: „Deshalb wollte ich nicht, dass du mich siehst.“ Selbst der Erkrankte, dessen Zeit unablässig davontickt, versucht sein Umfeld vor der Erkenntnis des selbigen zu bewahren.

Die Familienmitglieder tun dasselbe auf ihren unterschiedlichen Wegen. Tonas Vater beschneidet akribisch einen Bonsai, den er Tona schließlich schenkt. Doch was soll ein Todgeweihter mit einer Pflanze, die ihn weit überleben wird? Die Schwestern Tonas ergehen sich in Partyvorbereitungen, eine von ihnen gestaltet eine Torte derart detailreich, dass sie erst in der Nacht fertig wird.

Eine andere ruft eine Art Schamanin zu Hilfe, die die Räume im Haus spirituell reinigen soll, um Tonas Zustand zu verbessern. Sie alle fliehen auf ihre Weise und alles gipfelt in der Gratulation, die eine der Schwestern Tona schließlich zuspricht: „Du fällst, aber du stehst wieder auf!“ Dabei weiß jeder im Zuschauersaal längst, dass dieser Mann kaum wieder aufstehen wird.

Es ist einzig die Tochter Tonas, die es schafft, eine Metaperspektive einzunehmen und die Dinge so zu sehen, wie sie wirklich sind. Sie sitzt während der rauschenden Gartenparty, die Tona schließlich durchaus gerührt miterlebt, auf dem Dach des Hauses und blickt auf alle herab. Als die Torte, handbemalt, mit dem allzu kitschig wirkenden Motiv „Sternennacht“ von Van Gogh schließlich serviert wird und Tona die Kerzen auspustet, sagt er: „Ich weiß gar nicht, was ich mir wünschen soll.“ Man will rufen: Wünsch dir Gesundheit. Schmerzfreiheit. Nicht zu sterben. Weder er noch die Partygesellschaft wagt es, das auszusprechen. Lediglich der Blick der Tochter lässt nicht nur die Anerkennung des gegenwärtigen Todes erkennen, sondern auch einen letzten Funken Hoffnung.

Die Jecken tanzen

Nach der Premiere von „Tótem“ am Montag wurde dieser Beitrag von manchen als einer der Favoriten für einen Berlinale-Preis gehandelt. Das mag zum einen an der behutsamen Erzählweise liegen, die selbst hartgesottene Filmkritiker in der Pressevorführung zu Tränen gerührt hat. Aber die Wertschätzung für dieses Werk hat auch mit der Zeit, in der wir leben zu tun. In der Ukraine herrscht Krieg, täglich verlieren Menschen ihr Leben. Durch Köln tobte gerade der Karneval. Einige Tage das Leid um uns herum zu verdrängen, ist nicht nur das Anliegen der Jecken. Es liegt in uns allen.

Der Tod hat keinen Raum mehr in unserer Gesellschaft, ebenso wenig wie das Leid. Das ist einer der Gründe, warum eine Debatte über Sterbehilfe in der Politik tobt: Niemand soll mehr leiden. Der Tod soll spurlos sein, unauffällig. „Tótem“ hingegen macht ihn sichtbar. Durch die unverdorbenen Augen eines Mädchens, einer Tochter. Sie sollte uns ein Beispiel sein.

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Eine Antwort

  1. Wie schade, dass Gottes Wort, so weit entfernt ist – dass es fast unvorstellbar ist, dass der lebendige Gott auch HEUTE noch heilen kann – die biblische Wahrheit hat sich doch nicht geändert. Sollte der Herr etwas verheißen und nicht erfüllen? (4.Mose 23,19) So lautet ein Flyer von Hans Mallau, er berichtet von Heilungen in Berlin, vor nicht mal 100 Jahren! Dieser Flyer ist auf meiner Homepage (cafe-milchladen.de) zum Runterladen. Sehr lesenswert und ermutigend.
    Lieber Gruß, Martin Dobat

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