Der tiefere Sinn des Alltags

Was hat eine rote Ampel mit dem Sinn des Lebens zu tun? Erstaunlich viel. Das Buch „Alltagstourist“ der Designerin Eva Jung überrascht in Bildern und Worten damit, welch tiefe Fragen ans Leben in scheinbar alltäglichen Besonderheiten stecken. Es ist ein Buch weniger zum Lesen als zum Anschauen – zum genau Hinschauen auf der Reise durch den Alltag. Eine Rezension von Jonathan Steinert
Von PRO
In ihrem Buch „Alltagstourist“ spürt Eva Jung den Besonderheiten des Alltäglichen nach
„Alltagstourist“ – dieses Wort hat Eva Jung erfunden. Und so hat sie ihr Buch genannt, das am 11. Dezember erschienen ist. Es ist weder ein Lesebuch noch ein Bildband, auch wenn es mit seinen seitenfüllenden Fotografien und dem unkonventionellen Design durchaus vor allem aufs Optische setzt. Das Besondere daran ist, dass die Motive der Bilder scheinbar trivial und doch so einzigartig sind. Es ist verblüffend, wie ästhetisch eine U-Bahn-Rolltreppe oder eine Überwachungskamera im Berliner Regierungsviertel, leere Getränkekisten am Straßenrand, Einkaufskörbe oder Ampeln sein können. Das Buch ist „an unscheinbaren Orten dem tieferen Sinn auf der Spur“. Auf den Fotografien sind Dinge des Alltags unserer sowie der Lebenswelt anderer Kulturen und Länder zu sehen, die die Autorin bereist hat. Prominente Sehenswürdigkeiten gibt es keine, denn für Eva Jung ist gerade das Unscheinbare „sehenswürdig“. Noch verblüffender sind die Gedankengänge, die der Betrachter bekommen kann, wenn er sich von den kurzen Texten, manchmal nur einzelnen Wörtern oder Fragen anschubsen lässt, die den Bildern an die Seite gestellt sind. Er soll nicht bei den Motiven selbst stehenbleiben, sondern weiterdenken, anders denken, Fragen stellen, nach dem Kern der Dinge suchen.

Eine Frage noch

„Haben Sie eine gute Sicht?“ Fragen, schreibt Eva Jung, sind die besten Anfänge. Die Fragen, die sie in ihrem Buch streut, scheinen auf dem ersten Blick ähnlich simpel zu sein wie die Motive der Fotografien, denen sie an die Seite gestellt sind. Aber wer sie sich auf der Zunge zergehen lässt, entdeckt ihre Mehrdeutigkeit. Es sind Fragen, auf die es kaum schnelle oder gar einfache Antworten gibt. „Wie schnell träumen Sie? Wie dick ist ihr Leben? Was fehlt Ihnen zum Glück? Was fragen Sie sich eher selten?“ Auf solche Fragen muss man erst einmal kommen. Aber es kann sich lohnen, sie sich zu beantworten. Das Buch enthält auch Motive, die Eva Jung schon für andere Produkte gestaltet hat, zum Beispiel Aussagen der Bibel über die Liebe Gottes zum Menschen, die die Designerin zur Form eines Fingerabdrucks anordnet. Oder die „Wertvollwörter“, ursprünglich eine Spruchkartenserie: Bibelverse in einem markanten Wort zusammengefasst, das auf einer Doppelseite in dicken, weißen Lettern auf knalligem Untergrund leuchtet. „Funke“ ist so ein Wort, für Eva Jung die Essenz von Johannes 9,25. Auch die von ihr gestaltete Ausgabe der Bibel in Form eines Notizbuches findet sich in „Alltagstourist“. Eva Jung bezeichnet sich selbst als Alltagstouristin. „Ich gehe mit offenen Augen durch die Welt und finde viele Sachen, die ich für findenswert halte“, sagt sie. „Das ist ein Einstieg, um Gott kennenzulernen. Gott hat so viele Puzzleteile versteckt – es ist wertvoll, das zu achten.“ So versteht sie ihr Buch als ein Alltagsreisetagebuch, in dem sie festhält, welche Besonderheiten sie „im Hier und Jetzt“ entdeckt, welche Fragen sie sich stellt und wo sie Antworten gefunden hat. Dass sie an Gott glaubt und seine Liebe zu ihr der Grund ihres Lebens ist, wird an vielen Stellen deutlich, aber es ist nie aufdringlich. So ist das Buch auch ein sehr persönliches: Nicht nur, dass Eva Jung kurze Episoden von ihren Reisen schildert und erzählt, wie einige ihrer gestalteten Motive entstanden sind; sie zeigt darin, mit welcher Grundhaltung sie die Welt sieht. Den Betrachter lädt sie ein, sich ebenfalls auf diese Reise durch den Alltag zu begeben und sich auf Fragen und „Gedankenspaziergänge“, wie sie es nennt, einzulassen.

Wo geht die Reise hin?

Wer es gewohnt ist, Bücher vorn zu beginnen und hinten damit aufzuhören, der wird „Alltagstourist“ etwas unstrukturiert empfinden und womöglich Mühe haben, manche Zusammenhänge von Texten und Bildern nachzuvollziehen. Das Buch ist eher eine collagenartige Zusammenstellung der „Reiseeindrücke“ der Autorin. Deshalb kann man es, wie sie anmerkt, auch irgendwo zwischendrin aufschlagen, von hinten nach vorn blättern, darin stöbern oder sich nur eine Seite genauer anschauen. Das fordert vom Leser und Betrachter eine gewisse Offenheit, um der Herangehensweise von Eva Jung zu folgen. Wer die innere Freiheit mitbringt, seine Gedanken loszuschicken, ohne zu wissen, wo sie ankommen, wird Überraschendes, Inspirierendes, Anregendes finden. Es kann sein, dass er Gott begegnet. Das ist ein Wunsch, den Eva Jung mit diesem Buch verbindet: „Ich bin in meinem Leben damit konfrontiert worden, dass eine Begegnung mit Gott heute möglich ist. Gott ist Leidenschaft, wir können mit ihm reden, eine Beziehung zu ihm haben. Wenn sich durch das Buch jemand herausgefordert fühlt und sich auf die Reise traut, Gott zu erleben, dann ginge ein Wunsch in Erfüllung.“ Von „Alltagstourist“ gibt es 1.965 Exemplare. Finanziert hat es Eva Jung über Crowdfunding. Verlage hatten Zweifel daran, ob sich ein solches Buch auf dem Markt behaupten könnte, zumal es sich nicht in eine bestimmte Kategorie einordnen ließ. Deshalb hat Eva Jung ihr Projekt online präsentiert und innerhalb von zweieinhalb Monaten von 505 Unterstützern über 25.000 Euro dafür bekommen, das Buch herzustellen. Seit Mittwoch ist der „Alltagstourist“ im Handel, die Evangelische Buchhandlung Holstenstraße in Hamburg vertreibt das Buch. Nach zwei Tagen ist bereits die Hälfte der Auflage verkauft, sagt Geschäftsführer Valentin Schweigler. „Es geht rasend, wir kommen kaum hinterher. Ich war am Anfang optimistisch, jetzt bin ich davon persönlich begeistert.“ (pro)
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