Evangelikale sind „Befehlsempfänger Gottes“. So legt es der Titel eines mehr als fünfzigminütigen Radiofeatures nahe, das der SWR produziert hat und das weitere öffentlich-rechtliche Sender ausstrahlen. Es geht darin um den evangelikalen Einfluss in Kirche und Politik. Natürlich muss eine Überschrift zuspitzen. Aber sie gibt auch den Denkrahmen vor, in dem der Hörer das folgende Stück verstehen soll. Sind Evangelikale also Christen, die ihren Verstand ausschalten, die in blindem Gehorsam göttliche Befehle auf Erden ausführen, Untertanen ohne eigenen Willen? Eine verschworene religiöse Gemeinschaft, die im Zweifel Gottes Gesetz höher achtet als die Verfassung, und die Politik und Kirche mit ihren religiösen Vorstellungen unterwandert und infiltriert?
Der Titel öffnet eine große, stereotype gedankliche Schublade. Der Beitrag selbst bemüht sich um Differenzierung. Baptistenpastor Andreas Malessa und der ebenfalls evangelikal geprägte Theologe Jürgen Mette dürfen – quasi aus dem Inneren der Bewegung – die Evangelikalen, ihre Geschichte und ihr Denken einordnen. Beide haben sich schon publizistisch mit der Bewegung und mit der Offenheit einiger frommer Christen für politisch rechte Ideen befasst. Malessa macht in einem Statement deutlich, dass die inhaltliche Vielfalt der Evangelikalen „sehr groß“ ist – von „enthusiastischer Frömmigkeit“ bis „sozialpolitisch engagierter liberaler Theologie“.
Als eine Art Fürsprecher vonseiten der Landeskirche kommt Thies Gundlach, einer der Vizepräsidenten des Kirchenamtes der Evangelischen Kirche in Deutschland, zu Wort. Missionarische Aktivitäten unterstütze die Kirche, man arbeite zusammen, die evangelikale Frömmigkeit sei „nichts Verbotenes“, macht er deutlich. An bestimmten Stellen – Frauenbild, Umgang mit Homosexualität – „da muss man manchmal auch Grenzen ziehen, aber zu DEN Evangelikalen muss man das nicht“. Denn wie Mette erklärt: Die Evangelikalen prägen das Bild der Kirche an der Basis durch ihren Fleiß.
Parallelen zum rechten Spektrum
Es wird also deutlich: Die Evangelikalen sind keine feste Gruppe, sondern Menschen mit einer bestimmten Frömmigkeit und Tradition, die sich in Landes- wie in Freikirchen finden und die sich mehrheitlich unter dem Dach der Evangelischen Allianz sammeln. Die wird fälschlicherweise als „Dachverband“ bezeichnet, was schon einige Journalisten vorher getan haben – die Struktur eines Netzwerkes scheint publizistisch schwerer zu fassen zu sein als eine abgrenzbare Organisation. Das macht auch die Berichterstattung über die Evangelikalen schwierig. Denn: Wer genau gehört zu ihnen? Wer repräsentiert sie? Wofür stehen sie? Und wie viele sind sie?
Dieses Schwierigkeit ist auch in diesem Beitrag von Michael Weisfeld zu spüren. Bei der Frage nach dem kirchlichen und politischen Einfluss der Evangelikalen fragt der Autor vor allem danach, wie politisch konservativ oder rechts Evangelikale sind. Er stellt Einzelpersonen vor, deren Äußerungen zum Teil auch innerhalb der christlich-konservativen Szene umstritten sind. So ist etwa eine Predigt des Bremer Pfarrers Olaf Latzel zu hören. Darin spricht er in sehr drastischen und teilweise abwertenden Worten davon, dass sich Christen von Muslimen und anderen Religionen abgrenzen, keine gemeinsame Sache machen sollten. An anderer Stelle geißelt er die historisch-kritische Methode der Bibelauslegung und stellt sie als Werk des Teufels hin.
Die katholische Theologin Sonja Strube bescheinigt Latzel eine „rigoristische“ Haltung, die dem „Autoritarismus“ nahekomme – strukturelle Parallelen zum rechtsextremen Denken inklusive. Der Beitrag betont, dass sich die Allianz nicht von Latzel distanziert habe – im Gegensatz zu seiner Landeskirche. Zudem dürfe Latzel Beiträge für die evangelikale Wochenzeitung ideaSpektrum schreiben – ehemals der Informationsdienst der Evangelischen Allianz, wie es im Beitrag heißt.
Fromme bei der AfD
Überhaupt kommt idea in dem Beitrag nicht gut weg. Weisfeld holt eine alte Geschichte wieder hervor, worüber sich verschiedene Medien schon x-mal empörten: nämlich dass der frühere idea-Leiter Helmut Matthies 2009 den Gerhard-Löwenthal-Preis entgegennahm, den die Junge Freiheit vergibt. Aber auch die evangelikalen Stimmen Malessa und Mette bestätigen eine Offenheit des Magazins für die Positionen der AfD und eine „linkskritische“ Haltung, in der geistlich konservativ und politisch konservativ zusammengehören. Vertreter von idea selbst kommen nicht zu Wort. Außer einzelnen Autorennamen liefert der Beitrag keine weiteren Belege für die Ausrichtung des Magazins. So bleibt die Einschätzung der beiden Theologen die einzige Quelle dafür. Sie erscheint glaubwürdig, weil sie aus den eigenen Reihen kommt. Aber bei so bedeutsamen Zuschreibungen wäre es nur fair gewesen, hier auch den Adressaten dieser zu hören.
Reporter Weisfeld hat auch die Christen in der AfD besucht. Joachim Kuhs, ein evangelikaler Christ und Vater von zehn Kindern, wurde zum neuen Vorsitzenden der Gruppe gewählt. Er folgte Annette Schultner nach, die aus der AfD ausgetreten war – und auch im Beitrag zum Wort kommt. „Ich kann mir bibeltreues Christsein nicht anders als politisch konservativ vorstellen“, sagt sie. Der religionspolitische Sprecher der AfD Volker Münz äußert im Beitrag, die Evangelische Kirche sei eine „Vorfeldorganisation von rot-grün“. Sein Mitarbeiter Thomas Wawerka bekennt, zum Dunstkreis der Neuen Rechten zu gehören. Er verbindet sein Christsein mit der Angst vor der Islamisierung. Aufgewachsen ist er im frommen Vogtland, war in der Jungen Gemeinde seiner Kirchgemeinde und später Pfarrer in Sachsen. Nach der Probezeit hat ihn die Landeskirche nicht übernommen.
Familie Kuhs, so klärt der Beitrag auf, engagiere sich auch bei der „Demo für alle“, einer Protestbewegung gegen frühkindliche Sexualaufklärung und für die Stärkung der Vater-Mutter-Kind-Familie. Auch katholische Kleriker hätten diese Demos unterstützt, heißt es fast verschwörerisch in dem Beitrag. Ein Verweis auf die Bewegung „Bibel und Bekenntnis“ um den Prediger Ulrich Parzany und ihre kritischen Positionen zu Homosexualität fehlt ebenfalls nicht.
Pastoren mit liebevollem Ton gibt es auch
Düstere Musik unterstreicht die augenscheinliche Gefahr, die von den Frommen ausgeht. Menschen mit evangelikaler, pietistischer Frömmigkeit seien zwar traditionell unpolitisch geblieben, hätten aber seit jeher auf der Seite der politisch Konservativen gestanden, zitiert der Beitrag aus Mettes Buch „Die Evangelikalen“. Vonseiten der Evangelischen Allianz gebe es vornehmlich in die CDU Verbindungen, klärt das Feature auf und nennt die Bundestagsabgeordneten Frank Heinrich und Johannes Selle, den früheren Fraktionschef Volker Kauder sowie Christine Lieberknecht, ehemalige Ministerpräsidentin Thüringens.
Der Autor bemerkt am Ende, dass er auch das in evangelikalen Gemeinden erlebt hat: Die Pastoren „stehen bescheiden auf der Kanzel, ihr Ton ist mitunter fast liebevoll. Ich erlebe gut besuchte Gottesdienste, wo junge Leute mit erhobenen Händen und Tränen in den Augen zu sanfter Musik ihren Herren loben.“ Also keine Hetzprediger und Demonstranten. Kommt also ein versöhnlicher Schluss? Die Kritik folgt auf dem Fuße: Diese Menschen seien häufig unpolitisch, würden auch nicht gegen Rechts auf die Straße gehen. Außerdem habe dem Autoren ein Mann von geistlichem Missbrauch in seiner Gemeinde berichtet.
Die Frage nach dem politischen Einfluss bleibt unbeantwortet
Wenn der Beitrag davon spricht, die Evangelikalen hätten ihre Leute bis hinein in die Spitze der EKD sitzen, klingt das so, als wollten fromme Verschwörer die Kirche unterwandern. Und der unvermeidliche Vergleich zu Evangelikalen in Brasilien und in den USA, die die rechtskonservativen Präsidenten mehrheitlich unterstützen, tut ein Übriges. Aber Evangelikale auf der anderen Seite des Antlantiks spielen eine ganz andere gesellschaftspolitische Rolle als hier. Solche Andeutungen und Suggestionen entfernen sich von einer sachlichen Basis. Die personellen Verbindungen, die Weisfeld offenlegt und sich von evangelikaler Seite bestätigen lässt, sind nicht zu leugnen. Aber indem der Autor sich fast ausschließlich damit beschäftigt, wie „rechts“ Evangelikale sind, lässt er „die Evangelikalen“ in einem fragwürdigen Licht zurück – ohne seine eigentliche Frage zu beantworten.
Weisfeld will den Einfluss „der Evangelikalen“ auf Kirche und Politik untersuchen. Vor allem präsentiert er aber Christen, die politisch aktiv sind, teilweise ihre rechte Gesinnung in drastischen, ja extremen Worten zum Ausdruck bringen – und irgendwie im evangelikalen Spektrum angesiedelt sind. So stehen einige rechte Christen in dem Beitrag für die evangelikale Bewegung. Es fehlt sowohl eine Einordnung innerhalb des breiten evangelikalen Spektrums einerseits als auch zur zahlenmäßigen Größenordnung der Evangelikalen andererseits.
Welcher Einfluss von „den Evangelikalen“ ausgeht, kann der Beitrag nicht beantworten. Zum einen, weil die Evangelikalen eben keine in sich geschlossene, organisierte Gruppe mit einer einheitlichen politischen Agenda sind. Zum anderen, weil Weisfeld es versäumt, auch in andere politische Lager und Themenfelder zu schauen. Ein Interview etwa mit dem Politik-Beauftragten der Deutschen Evangelischen Allianz hätte bei dieser Fragestellung unbedingt zu einem runden Bild dazugehört. Auch das Engagement von evangelikalen Interessenvertretern, Organisationen und Gemeinden etwa für Flüchtlinge und Religionsfreiheit oder gegen Zwangsprostitution und Armut gehört zu diesem Bild dazu. Stattdessen wiederholt der Beitrag viele Themen und Stereotype, die schon oft über Evangelikale vorgebracht wurden. Eine verpasste journalistische Chance, hier eine neue Perspektive aufzutun.
ARD Radiofeature „Befehlsempfänger Gottes – Über evangelikalen Einfluss in Kirche und Politik“
Sendetermine: BR 2 – Samstag, 26. Januar 2019, 13:05 Uhr SR 2 KulturRadio – Samstag, 26. Januar 2019, 17:04 Uhr Bremen Zwei (RB) – Samstag, 26. Januar 2019, 18:05 Uhr WDR 5 – Sonntag, 27. Januar 2019, 11:05 Uhr NDR Info – Sonntag, 27. Januar 2019, 11:05 Uhr hr2-kultur – Sonntag, 27. Januar 2019, 18:05 Uhr