Claas Relotius, der letztes Jahr als einer der größten Fälscher in der Geschichte des deutschen Journalismus entlarvt wurde, muss sehr traurig bei der Arbeit gewesen sein. Umringt von seinen Journalistenpreisen habe er im Gebäude des Magazins Der Spiegel in seinem Büro vor seinen beiden Computern gesessen, schreibt Moreno. Doch die Preise waren für etwas vergeben worden, was Relotius eigentlich nie geleistet hatte. Liebe und Anerkennung, die er sich wahrscheinlich ersehnte, galten letztendlich nicht ihm, sondern einer Person, die der aufstrebende Journalist erfunden hatte. Also erreichte ihn auch keine echte Liebe, auch die war gefälscht, und zwar von ihm selbst.
Der Journalist Juan Moreno, der seit zwölf Jahren für den Spiegel als freier Autor schreibt, erzählt in seinem Buch „Tausend Zeilen Lüge“ die Vorkommnisse um den Fälscher Claas Relotius detailliert nach. Und das liest sich so spannend wie ein Krimi. Wie konnte das System unter doch eigentlich so kritischen Journalisten so lange funktionieren? Und vor allem: Was trieb ihn an? Der Leser verfolgt mit, wie Moreno zunächst selbst heftigen Widerstand von seinen Kollegen und Vorgesetzten beim Spiegel erfuhr, weil er es wagte, den vielfach preisgekrönten, unfassbar netten jungen Kollegen Claas Relotius der Fälscherei zu verdächtigen – den schlimmsten Verdacht, den man gegenüber einem Journalisten äußern kann. Im Dezember 2018 stand Relotius kurz davor, zum vierten Mal (!) in fünf Jahren den deutschen Reporterpreis zu gewinnen. Moreno: „Das hatte es noch nie im Journalismus gegeben.“ Über vierzig Journalistenpreise habe Relotius da bereits eingeheimst gehabt, und noch öfter war er für Preise nominiert. „Er gehört zu den erfolgreichsten Reportern, die jemals diesen Beruf ausgeübt haben.“ Von CNN bekam er obendrein die Auszeichnung „Journalist des Jahres“. Eine Ehrung, die in Europa nur ihm, Claas Relotius, zuteil wurde. Und er war da gerade mal 32 Jahre alt. Das geschah übrigens im selben Jahr, in dem „Lügenpresse“ zum Unwort des Jahres gewählt wurde.
Von Anfang an ein Fälscher
„Praktisch von Beginn an enthielten alle Texte Fehler, Ungenauigkeiten oder Erfindungen“, erklärt Moreno, den Werdegang Relotius‘ nachzeichnend. Dabei hätten die Verantwortlichen beim Spiegel es merken können: Als sie Relotius einstellten, war er gerade bei der Neuen Zürcher Zeitung gefeuert worden, weil er bei Kurzinterviews mit finnischen Friseuren unsauber gearbeitet hatte und das ans Licht gekommen war. Über 60 Texte hatte Relotius für den Spiegel geschrieben, bis auf eine Handvoll waren sie alle gefälscht. Er wurde zum „schlimmsten Albtraum“ für den Spiegel, das „wohl wichtigste, renommierteste und stolzeste Medienhaus Deutschlands“.
„Leser liebten seine Geschichten ganz offensichtlich“, stellt der Journalist fest. Relotius habe es verstanden, die Geschichten exakt so aufzubauen, wie ein Leser es möchte: Es gehe viel eher um Scheitern und Leid bei den Menschen anstatt um glanzvolle Erfolgsgeschichten; vor allem aber müsse alles schwarz oder weiß sein. „Starke Kontraste, gut gegen böse“, das ziehe im Journalismus immer, erklärt Moreno. Wenn dabei die Wahrheit auf der Strecke bleibt, erhöht sich vielleicht die Auflage, aber ebenso wächst ein Fantasie-Imperium, in dem ein sympathischer, bescheidener Jung-Autor spielend zum Superstar werden kann.
Für „Respekt und die Liebe“ der Mitmenschen
Moreno analysiert einzelne Geschichten von Relotius: „Warum wird ein amerikanischer Abtreibungsarzt in einer seiner Geschichten plötzlich vom totalen Abtreibungsgegner zum absoluten Abtreibungsbefürworter? Auch das kann Relotius einfach erklären, plausibel und nachvollziehbar, wie in einem Film. Der Arzt hatte einen guten Freund, dieser war Abtreibungsarzt und wurde von einem christlichen Fundamentalisten ermordet. Das hat ihn für immer verändert. Mit einem Schlag.“ Relotius habe sich „all die einfachen Erklärungen der Menschen oder das Wesen ganzer Landstriche ausgedacht“. Ines Pohl, Chefredakteurin der Deutschen Welle, betonte in ihrer Laudatio bei der Verleihung des Deutschen Journalistenpreises, Claas Relotius prämierter Text („Ein Kinderspiel“, erschienen am 23.6.2018 im Spiegel) sei die „Antwort der Branche auf die Fake-News-Debatte“, die „Antwort auf die Lügenpresse-Vorwürfe“. Ausgerechnet.
Es gab vor ein paar Jahren schon mal einen ähnlichen Fälscher in Amerika: Stephen Glass. Die Ähnlichkeit zu Claas Relotius ist verblüffend – nicht nur beim Namen, sondern auch beim Charakter. Glass ging es, wie er später sagte, darum, den „Respekt und die Liebe“ seiner Mitmenschen zu bekommen. Auch Claas Relotius verstand sich perfekt darauf, einfühlsam seinem Gegenüber das Gefühl zu geben, verstanden zu werden. Immer hebt Moreno seine besondere Fähigkeit des „Spiegelns“ in einem Gespräch hervor: Das bedeutet, mit etwas Verspätung genau das zu wiederholen, was der andere gesagt hat, aber mit anderen Worten. Moreno: „Man sollte nicht unterschätzen, wie gut das tut, wie viel Zuneigung man einem Menschen entgegenbringt, der vorgibt, einen zu verstehen. Eine größere, tiefere Sehnsucht gibt es im Menschen kaum.“ Das funktioniert auch im Journalismus sehr gut. Wenn man seine Texte so schreibt, wie sie am besten beim Leser ankommen, ist man auf der Siegerstraße. Welche Ironie, dass dieses System des „Spiegelns“ ausgerechnet beim Magazin mit dem Namen „Spiegel“ so gut ankam.
„Auch Journalisten hören am liebsten sich selbst, ihre eigenen Überzeugungen, ihre eigenen Ängste“, schreibt Moreno. „Nicht wenige Spiegel-Leser glauben, dass Amerikaner verrückt sein müssen, um jemanden wie Donald Trump zu wählen. (…) Was macht jemand wie Relotius, der nicht Wahrheit, sondern Zustimmung sucht? Für den Spiegel entsteht ein größtenteils erfundener Text über selten dämliche Trump-Wähler (…).“ Hinzu komme das gesteigerte Geltungsbedürfnis vieler Journalisten. Ein emeritierter Psychologieprofessor habe ihm einmal gesagt, Relotius‘ Geschichte sei von „geradezu beleidigender Schulbuchhaftigkeit“. Ein Hochstapler mit starker Neigung zur dramatischen Selbstdarstellung, gepaart mit gesteigertem Geltungsbedürfnis. Moreno: „Das könnte für die halbe Spiegel-Redaktion gelten.“ Die Versuchung, nicht im Dienste der Wahrheit, sondern im Dienste der eigenen Karriere und für die Anerkennung zu schreiben, ist für einen Journalisten enorm groß.
Tatsächlich soll Morenos Buch „Tausend Zeilen Lüge“ verfilmt werden. Wie die deutsche Filmprodutkionsfirma UFA mitteilte, habe sich der Produzent Sebastian Werninger („Der Junge muss an die frische Luft“) die entsprechenden Rechte gesichert.
Das Buch ist ein wichtiges Lehrstück über den Journalismus. Aber auch der Medienkonsument selbst darf sich hier an die eigene Nase fassen: Will man am Ende dann eben doch lieber genau das lesen, was man vorher schon wusste? Wie sehr ist man bereit, auf Kosten des Unterhaltungswertes etwas Unerwartetes über die Wahrheit zu erfahren?
Es kann einem geradezu schwindelig werden, wenn man das Ausmaß und die Dreistigkeit in dem Skandal um Claas Relotius auf den 285 Seiten des Buches von Juan Moreno vor Augen geführt bekommt. Immer wieder drängt sich dabei die unangenehme Frage auf: Wie viele andere „Fälscher“ tippen jetzt gerade in einer Redaktionsstube bei Print, Radio oder Fernsehen einen „Bericht“ in ihr Schreibprogramm, ohne dass sich jemand um den Wahrheitsgehalt schert? Zählen am Ende Ruhm und Journalistenpreise mehr als die nackte (manchmal ernüchternde) Wahrheit? Weil es für mich als Leser schöner ist, die eigene, vorgefertigte Meinung noch einmal von einem Journalisten vorgesetzt zu bekommen – sozusagen „gespiegelt“ zu bekommen?
Juan Moreno: „Tausend Zeilen Lüge. Das System Relotius und der deutsche Journalismus“, Rowohlt Berlin, 288 Seiten, 18 Euro, ISBN 9783737100861
Von: Jörn Schumacher