Der Papst der Überraschung

Thomas Schirrmacher hat als evangelikaler Leiter Papst Franziskus oft getroffen und sein Wirken begleitet. Die Schwerpunkte in Franziskus’ Amtszeit haben sich verschoben, findet er. Und zieht als Freund des Verstorbenen ein gemischtes Fazit.
Von PRO
Papst Franziskus

Mit Papst Franziskus hatte ich in offiziellen Funktionen ganz unterschiedlicher Art zu tun, sowohl für die Weltweite Evangelische Allianz, als auch für die „International Society for Human Rights“. Ich habe ihn bei drei Staatsbesuchen begleitet. Zugleich habe ich ihn häufiger privat in Santa Marta besucht, oft zu seinem Geburtstag. In den letzten Jahren kam dann der interreligiöse Dialog mit islamischen Staaten dazu, wo ich auch oft anwesend war.

Das Ungewöhnlichste war sicher, dass wir uns bei den rein privaten Treffen in Santa Marta langsam auf Deutsch duzten und unterhielten und miteinander beteten. Dass das Ende nahte, brachte der Papst in seiner unnachahmlichen humorvollen Art jüngst zum Ausdruck, als er kaum noch hörbar scherzte: „Heute keine Kaffeepause mit dem Papst“. Mein gleichnamiges Buch hatte er in der deutschen Fassung kommentiert.

Seit meinem Buch „Kaffeepausen mit dem Papst“ von 2016 ist nicht nur ein Jahrzehnt vergangen, sondern das Pontifikat von Papst Franziskus hat seitdem auch eine etwas andere Richtung genommen. Der Schwerpunkt wanderte vom interkonfessionellen Dialog zum Dialog mit dem (Staats-)Islam und von der Evangelisation zur breiteren Aufforderung an alle Menschen, respektvoll zueinander zu sein.

Sein Leben bis zur Papstwahl

Jorge Mario Bergoglio SJ wurde am 17. Dezember 1936 in Argentiniens Hauptstadt Buenos Aires als ältestes von fünf Kindern geboren, vier Jahre, nachdem sein Vater aus Italien vor dem Faschismus geflohen war. Er lernte Chemietechniker, trat 1958 den Jesuiten bei und wurde 1969 zum Priester geweiht. Von 1980 bis 1986 war Bergoglio Rektor der Theologischen Fakultät von San Miguel.

1986 ging er an die vom Jesuitenorden getragene Philosophisch-Theologische Hochschule Sankt Georgen in Frankfurt am Main, um zu promovieren. Seine Dissertation über Romano Guardinis philosophisches Hauptwerk „Der Gegensatz“ blieb unvollendet, weil ihm – wohl als Disziplinarmaßnahme – die Rückkehr nach Argentinien befohlen wurde.

1997 wurde er Erzbischof Koadjutor von Buenos Aires, also Stellvertreter des Erzbischofs, der automatisch bei Rücktritt oder Tod die Nachfolge antritt. Dass der Erzbischof und Kardinal Antonio Quarracino schon neun Monate später tatsächlich plötzlich starb, kam unerwartet, und so wurde Bergoglio schon 1998 Erzbischof von Buenos Aires. 2001 wurde er zum Kardinal ernannt.

Beim Konklave 2005, das Papst Benedikt wählte, hatte er bereits die zweitmeisten Stimmen, trat dann aber in der nächsten Wahlrunde nicht mehr an, sodass Ratzinger eine Zweidrittelmehrheit bekommen konnte. Nach dem Rücktritt von Papst Benedikt wurde er deswegen recht schnell und unkompliziert am 13. März 2013 zum Papst gewählt und nahm zu Ehren des katholischen Heiligen Franz von Assisi (1181–1226) den Namen Franziskus an – ungewöhnlich, weil seit Jahrhunderten neugewählte Päpste die Namen ihrer Vorgänger wählten und kombinierten.

Thomas Schirrmacher, Papst Franziskus Foto: Thomas Schirrmacher

Zum Autor

Der mehrfach promovierte Theologe Thomas Schirrmacher war von 2021 bis 2024 Generalsekretär der Weltweiten Evangelischen Allianz. Bereits zuvor hatte er über viele Jahre verschiedene verantwortliche Postionen in der WEA inne. Er ist außerdem Präsident des Internationalen Rates der Internationalen Gesellschaft für Menschenrechte sowie des Internationalen Instituts für Religionsfreiheit. Schirrmacher ist darüber hinaus Bischof der internationalen anglikanischen Gemeinschaft Communio Christiana. Mehrfach hat er Papst Franziskus getroffen, auch an der Familiensynode des Vatikan hat er teilgenommen. Für PRO hat er immer wieder Entwicklungen in der katholischen Kirche eingeschätzt.

Seine Enzykliken und Bücher

Papst Franziskus hat drei Enzykliken verfasst:      

  • „Lumen fidei – Licht des Glaubens“ (2013) geht auf einen Entwurf von Papst Benedikt zurück und ist die erste Enzyklika, die den Glauben als Ganzes behandelt.                                         
  • „Laudato si‘ – Gelobt seist du“ (2015), die sogenannte Umweltenzyklika.  
  •  „Fratelli tutti – Über die Geschwisterlichkeit“ (2020).

Hier gibt es eine deutliche Entwicklung von fast protestantisch zu nennenden Bibelarbeiten hin zu Enzykliken, die sich an alle Menschen guten Willens wenden und deswegen immer weniger biblisch-theologisch argumentieren. Eine ähnliche Entwicklung zeigen die Apostolischen Schreiben, deren Stellung nicht ganz so hoch ist, von denen es recht viele gibt und die zum Teil auch Fragen der Organisation des Vatikans behandeln. Interessant für Protestanten und Evangelikale sind dabei die frühen Apostolischen Schreiben „Evangelii gaudium – Freude der Guten Nachricht“ (2013) über das Evangelisieren und „Aperuit illis“ zur Einführung des Sonntags des Wortes Gottes (2019). Wie bei den Enzykliken liegen die eher biblisch-innertheologischen Schreiben in der ersten Hälfte seiner Amtszeit.

Daneben sind die für einen Papst ganz untypischen vielen Interview- und Gesprächsbände, wobei die ersten schon erschienen, bevor er Papst wurde. In ihnen hat er zum Teil berühmt gewordene Statements gemacht, die außerhalb der offiziellen katholischen Lehre liegen und die dann zum Teil Vatikanbehörden mühsam einfangen und erklären mussten. Dasselbe gilt für berühmt-berüchtigten Antworten in Gesprächen und Interviews mit Journalisten im Flugzeug.

Das undogmatischere Auftreten hatte Vor- und Nachteile

Indem der Papst theologisch undogmatischer auftrat, hat er einerseits Entwicklungen angestoßen, die Evangelikale sehr begrüßt haben, andererseits auch welche, die ihnen große Sorge bereitet haben. Dazu kommt natürlich die bereits erwähnte Entwicklung, dass der Papst in der ersten Hälfte seiner Amtszeit stark auf die Protestanten zuging, dies dann in der zweiten Amtszeit aber durch die Beziehung zum (staatlichen) Islam ablöste, oder mit den Worten von Michael Meier: „Tauwetter mit dem Islam, Entfremdung mit den Protestanten.“

Der Papst hat viele auch theologische und tiefgreifende Änderungen vorgenommen, ohne den schriftlichen und dogmatischen Bestand der katholischen Kirche an sich zu verändern. Ein typisches Beispiel ist die Verbannung der meisten Hoheitstitel des Papstes, die noch unter Benedikt groß auf dem Titelblatt des Päpstlichen Jahrbuchs standen, auf die Rückseite des Jahrbuchs unten im Kleindruck. So zweifelte Franziskus an, ob er wirklich der „Vicarius Iesu Christi“, Stellvertreter Jesu Christi, ist, wenn er davon spricht, dass die ganze Kirche und jeder, der das Evangelium verkündigt, Jesus Christus vertritt.

Wie in vielen anderen Fragen muss man sich als Evangelischer entscheiden: Sieht man die katholische Kirche durch die Brille ihrer nie widerrufenen historischen lehramtlichen Entscheidungen, oder durch die Brille des jeweils amtierenden Papstes.

Bei seiner Amtseinführung auf dem Petersplatz begrüßte Franziskus die anwesenden protestantischen Kirchenführer zusammen mit den anderen als Leiter der „anderen Kirchen“ – anders als das offiziell ausgegebene Textprogramm, das die Protestanten gemäß Zweitem Vatikanischen Konzil nur unter „kirchliche Gemeinschaften“ führte. Er wiederholte das später häufiger, was sich auch im gleichwertigen Umgang etwa von orthodoxen und evangelikalen Führern äußerte. Am dogmatischen Bestand änderte er jedoch nichts.

Wie in vielen anderen Fragen muss man sich als Evangelischer also entscheiden: Sieht man die katholische Kirche durch die Brille ihrer nie widerrufenen historischen lehramtlichen Entscheidungen, vor allem im 16. und im 19./20. Jahrhundert, oder durch die Brille des jeweils amtierenden Papstes. Beide Sichtweisen sind berechtigt, beide widersprechen sich zugleich, weil die katholische Kirche selbst hier in einem Widerspruch gefangen ist.

Das Beispiel der „Rechtfertigung allein aus Glauben“

Franziskus war geradezu ein „Fan“ der „Gemeinsamen Erklärung zur Rechtfertigung“ von 1998 zwischen Lutherischem Weltbund und dem Päpstlichen Rat für die Einheit der Christen.

Die gemeinsame Rechtfertigungserklärung galt weltweit als gewaltiger Fortschritt. Der damalige Präfekt der Glaubenskongregation, Josef Kardinal Ratzinger, betonte allerdings, die Erklärung könne nie irgendeine frühere Konzilsentscheidung aufheben. Immerhin, und das scheint mir das Entscheidende zu sein, stellte er die Richtigkeit der Rechtfertigungsdefinition der Erklärung nicht in Frage.

Franziskus übergeht einfach die Frage, was das alles für frühere Konzile bedeutet, und knüpft daran an, dass es eine gemeinsame Beschreibung dessen gibt, was als die biblische Lehre von der Rechtfertigung angesehen wird:

„In jeglicher Form von Evangelisierung liegt der Vorrang immer bei Gott, der uns zur Mitarbeit mit ihm gerufen und uns mit der Kraft seines Geistes angespornt hat.“ Und weiter: „Das Prinzip des Primats der Gnade muss ein Leuchtfeuer sein, das unsere Überlegungen zur Evangelisierung ständig erhellt.“ Man bedenke: „Primat“ ist in der katholischen Sprache eigentliche eine Beschreibung der Vorrangstellung des Papstes!

Franziskus war insgesamt nicht weit davon entfernt, einfach allen Gläubigen den Ablass zu gewähren.

Sein Umgang mit dem Ablass gehört ebenfalls hierher. Einerseits hat er den Ablass im Rahmen der von ihm verkündigten Heiligen Jubiläumsjahre – in dem neuesten sind wir derzeit noch – in den Mittelpunkt gestellt. Doch schon bei der ersten „Verkündigungsbulle“ des außerordentlichen Jubiläumsjahres der Barmherzigkeit findet sich der Ablass nur beiläufig erwähnt, nämlich nur in 22. von 24 Paragraphen. Das ist umso erstaunlicher, als das Jubiläumsjahr vor über 600 Jahren als Ablassjahr erfunden wurde.

Was dann als Ablass beschrieben wird, hat nur noch entfernt mit der klassischen katholischen Ablasstheologie zu tun („trotzdem bleiben negative Spuren“). Immerhin schenkt der Vater die Barmherzigkeit und Vergebung „durch die Kirche“. Zudem war Franziskus insgesamt nicht weit davon entfernt, einfach allen Gläubigen den Ablass zu gewähren. Denn es ist eine uralte Streitfrage, warum der Papst, wenn er die Macht hat, allen einen Ablass zu gewähren, dies nicht einfach tut. In der Broschüre der Deutschen Bischofskonferenz, die „Das Heilige Jahr“ vorstellt, kommt der Ablass einfach überhaupt nicht mehr vor.

Thomas Schirrmacher, Vatikan Foto: Thomas Schirrmacher
Thomas Schirrmacher im November 2023 auf dem Petersplatz im Vatikan

Was ich für die positiven Seiten seines Wirkens halte

Es scheint vermessen zu sein, eine Liste positiver und negativer Wirkungen von Papst Franziskus aufzulisten. Immerhin ist das dann doch eine detailliertere Würdigung als die meisten Nachrufe, die sich nur einige wenige Elemente herausgreifen. Zudem wird dabei die enorme Wirkungsbreite des Papstes deutlich.

# Er hat die Korruption im Vatikan und die Kooperation mit der Mafia massiv bekämpft, zum Teil auch unter Lebensgefahr.

# Er hat die Entstaatlichung des Vatikans und seiner völkerrechtlichen Entsprechung, dem Heiligen Stuhl, die sein Vorgänger begonnen hatte, fortgeführt. So stimmt der Vatikan bei der UN nicht mehr mit ab und die italienische Polizei hat jetzt das Gewaltmonopol im gesamten Vatikan, sodass die Schweizer Garde ohne Schusswaffen arbeitet. Das gilt, obwohl er gleichzeitig tagespolitisch sehr aktiv war und massiv als politisches Weltgewissen auftrat.

# Er hat das Verhältnis zu nichtchristlichen Religionen entkrampft. Das gilt insbesondere für das Judentum (als Religion, weniger für Israel als Staat) und den Islam (siehe aber meine Kritik unten). Der Preis dafür war allerdings theologische Unklarheit, so etwa, wenn Religionen als verschiedene Wege zu Gott bezeichnet wurden, so wie es auch mehrere Sprachen gibt.

# Er hat das Verhältnis der globalen katholischen Kirche zu Evangelikalen und Pfingstlern entkrampft, wenn er auch zunehmend das Interesse an der Thematik verlor, je mehr er sich dem interreligiösen Dialog zuwandte. Die Entkrampfung führte real dazu, dass in vielen Ländern mit katholischer Mehrheit der Druck auf protestantische Minderheiten nachgelassen hat und die katholische Kirche heute oft mit Evangelikalen zusammen gegenüber Regierungen auftritt, statt mit der Regierung gegen sie zu arbeiten.

# Er hat sehr häufig auf die Katastrophe der Christenverfolgung hingewiesen, auch wenn er das Thema nie irgendwo im Vatikan oder in der katholischen Kirche institutionalisiert hat. Immer wieder betonte er die Notwendigkeit der Zusammenarbeit der Kirchen, da alle ihre Märtyrer im Himmel gemeinsam die Wolke der Zeugen bilden. Die „Ökumene der Märtyrer“ wurde zum einprägsamen Schlagwort.

# Die immer noch sehr verschwiegene Diplomatie ist vielleicht die stärkste Waffe der katholischen Kirche und erreicht viel Gutes. In der ersten Hälfte der Amtszeit setzte sich die Vatikandiplomatie auch vermehrt für nichtkatholische Christen ein, wovon ich ein Lied singen kann, in der zweiten Amtszeit ebbte das etwas ab.

Was ich für eher problematische Seiten seines Wirkens halte

# Während Papst Benedikt sich deutlich am republikanischen Ende des politischen Spektrums der USA positionierte, stellte sich Papst Franziskus am anderen Ende auf und war während seiner USA-Reise eindeutig, ja, bisweilen brüskierend, für die Demokraten und gegen die Republikaner. Er sprach sich für den Präsidentschaftskandidaten und Präsident Biden aus, obwohl die katholische Bischofskonferenz hier völlig anders dachte und Biden exkommunizieren wollte. Erstaunlich war deswegen, dass er die letzte politische Audienz seines Lebens dem republikanischen amerikanischen Vizepräsidenten J. D. Vance gewährte.

# Im Gegensatz zu seinen beiden Vorgängern hat er Kommunismus und Sozialismus nie wirklich kritisiert, dafür aber den Kapitalismus („diese Wirtschaft tötet“), Wirtschaftsliberalismus, Konsumismus. Seine ausschließlichen Stellungnahmen zugunsten aller Flüchtlinge und Asylanten und ihrem Recht, überall einwandern zu dürfen, oder zugunsten eines totalen Einsatzes gegen Klimawandel, zu bezahlen von den Industriestaaten, waren oft so tagespolitisch, dass das spezifisch Christliche oder Katholische dahinter kaum zu erkennen war. „VaticanNews“ veröffentlicht täglich ein Dutzend Stellungnahmen zu fast jedem wichtigeren politischen Ereignis der Welt, was man sowohl als wertvolles Engagement, als auch als völlige Entwertung eines der medienwirksamsten Ämter der Welt sehen kann, zumal fast alle Kommentare vorhersagbar und überwiegend politisch korrekt waren – vielleicht vom Thema Abtreibung und weniger deutlich vom Thema Sexualität einmal abgesehen.

# In diesem Zusammenhang ist auch sein Deal mit China zu erwähnen. Der Vertrag zwischen dem Heiligen Stuhl und China ist immer noch geheim, läuft aber darauf hinaus, dass China entscheidet, wer Bischof wird, und der Vatikan nach kurzer Wartezeit automatisch zustimmt. Gleichzeitig sitzen katholische Bischöfe im Gefängnis und der Teil der katholischen Kirche, der sich nicht fügt, wird schwer bedrängt, ohne dass der Vatikan einschreitet. Das ist umso ungewöhnlicher, als der Vatikan schon immer, aber speziell ab etwa 1800 dafür gekämpft hat, dass die Berufung eines Bischofs durch den Papst Vorrang sowohl vor allen Entscheidungen von Staaten hat, ja sogar Vorrang vor lokalen Wahltraditionen innerhalb der katholischen Kirche vor Ort.

# Der Dialog mit dem Islam überlagerte mehr und mehr den innerchristlichen Dialog wie auch den Dialog mit anderen Religionen. Dabei findet der Dialog ausschließlich mit Vertretern eines staatlichen Islam statt – weder mit Imamen, die aus Ländern wie Deutschland kommen, wo der Islam nichtstaatlich organisiert ist, noch mit islamischen Bewegungen, die von den islamischen Staaten verurteilt werden, wie die Ahmadiyya. Das macht deutlich, dass der Papst nicht vor allem der Linie der Religionsfreiheit folgte und sich für alle religiösen Minderheiten einsetzte. Der vom Papst in „Fratelli tutti“ als Kronzeuge zitierte Ahmad al-Tayyeb, Großscheich der Al-Azhar-Universität in Kairo, den der Papst oft traf – ich war mehrfach dabei in der Nähe – ist eben vor allem Staatskleriker.

# Der Versuch des Papstes, seine Rolle als möglicher Vermittler zwischen Russland und der Ukraine aufrecht zu erhalten, geschah um den Preis, dass er weder die unsägliche Rede vom Heiligen Krieg des Patriarchen der Russisch-Orthodoxen Kirche angriff, noch Russland wegen eines Angriffskrieges anklagte. Vergleicht man etwa die heftige Kritik an Israel mit der an Russland, wundert man sich über die Unausgewogenheit.

# Im Falle von Israel war der Papst nicht ganz so einseitig pro-palästinensisch wie der Vatikan in seiner Geschichte, doch eine Verurteilung der Morde vom 7. Oktober 2023 als terroristischer Akt kam ihm nicht über die Lippen. Der Papst bemüht sich, angesichts seiner Kritik an Israel den Juden seine Wertschätzung zu versichern, was ein Teil der Juden sehr schätzte, ein anderer Teil als Schönfärberei verstand.

Der Papst hat zu vielen Themen viel versprochen und bei einigen dann wenig gehalten

Nun soll das keine billige Kritik sein, auch ein Papst kann in zwölf Jahren nicht alles erreichen, was er möchte, erst recht nicht, wenn er eine derartig breite Reformagenda vorgibt, di praktisch alles umfasst, was den Vatikan und die Katholische Kirche betrifft.

# Das beste Beispiel ist die Amazon-Synode, zu der der Papst selbst weitreichende Erwartungen weckte, vor allem die Aufhebung des Zölibats für die Region. Obwohl er für alle Wünsche dafür sogar die vorgeschriebene Zweidrittelmehrheit auf der Synode erhielt, erwähnt das vom Papst verfasste Abschlussdokument keine der Forderungen, geschweige denn, dass es zu irgendeiner nennenswerten Änderung gekommen wäre. (Es sei angemerkt, dass in Teilen der katholischen Kirche wie im Nahen Osten oder der Ukraine verheiratete Priester zugelassen sind.)

# Im Falle der Homosexualität wurden alle enttäuscht, die sich weitreichende Änderungen erhofft haben – sie sind allesamt ausgebelieben. Gleichzeitig hat der Papst aber so viele Seitenbemerkungen zum Thema oder missverständliche Entscheidungen getroffen (wie etwa, dass gleichgeschlechtliche Paare gesegnet werden dürfen, aber gewissermaßen nur sekundenlang und nicht als Paar), dass alle, die begrüßen, dass es keinerlei Veränderungen gibt, trotzdem verärgert sind.

# Gemischt ist die Bilanz rund um das Thema sexueller Missbrauch durch Geistliche und das Vorgehen sowohl gegen Täter, als auch gegen Kirchenführer, die diese Täter gedeckt haben oder nichts unternehmen haben, was den Opfern gerecht geworden wäre. Einerseits hat Franziskus unermüdlich an dem Thema gearbeitet und Gewaltiges erreicht. Dabei hat er erstmals keine Rücksicht auf den Rang der Täter und der gegen sie Untätigen genommen, auch ranghöchste Kardinale mussten – erstmals 2018 – zurücktreten oder wurden ausgeliefert, und unter lebenden und sogar verstorbenen Gründern und Führern geistlicher Bewegungen wurde aufgeräumt, ihre Leitungsstrukturen wurden völlig neu gestaltet.

Andererseits fehlte oft der letzte Schritt, etwa die Verpflichtung, den Staat auch dann einzuschalten, wenn das in einem Land nicht Gesetz ist, oder der Forderung der Opferverbände nachzugeben, Instanzen auch mit professionellen Laien zu besetzen, um – so Franziskus häufig, dem „Klerikalismus ein Ende zu bereiten“. Zudem hat man das Empfinden, das die Frage nach den systematischen Ursachen des gewaltigen Ausmaßes nicht gestellt wurde. Eng damit verbunden ist, dass es in der Struktur der Katholischen Kirche liegt, dass der Papst selbst nicht angeklagt werden kann, aber durchaus schützend seine Hand vor Kleriker gehalten hat, wenn er sich überhaupt nicht vorstellen konnte, dass es sich um Täter handelte. In fast allen Fällen hat sich der Papst deutlich öffentlich entschuldigt. Zuletzt hat er aber den vom Jesuitenorden ausgeschlossenen und von der Glaubenskongregation laisierten slowenischen Pfarrer und Künstler Marko Ivan Rupnik wenige Wochen später vergeben und wieder zum Priester eingesetzt.

# Der Papst hat de facto den Zentralismus erhöht. „Der Papst ist einer der autoritärsten, die wir seit langem hatten.“ (Robert Spaeman in „Herder Korrespondenz“). Nun sind die weitreichenden Änderungen, die er durchgeführt hat oder angekündigt hat, ebenso wie Korruptionsbekämpfung, nur mit einer starken zentralen Hand durchführbar, aber de facto hat die Einzelperson des Papstes im Vatikan heute viel mehr effektive und juristische Macht, als irgendeiner der Vorgänger hatte.

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