Der ökumenische Katalysator der Hauptstadt

Von dem Büro aus, in dem Axel Nehlsen arbeitet, spionierte einst die Stasi den Bürgern im Kiez hinterher. Heute ist dort die Zentrale des christlichen Vereins „Gemeinsam für Berlin“ untergebracht. Der Pfarrer Axel Nehlsen hat das ökumenische Netzwerk aufgebaut. Jetzt geht der Brückenbauer in den Ruhestand.
Von PRO
Pfarrer Axel Nehlsens Herz schlägt für die Stadt Berlin und das Gebet

Axel Nehlsen ist gebürtiger Rheinländer. Aufgewachsen ist er im Siegerland, in einem Elternhaus, in dem der Glaube kaum eine Rolle spielte. Durch Jugendgruppen des örtlichen CVJM findet er zum Glauben und studiert dann Theologie in Münster und in Tübingen. Während seines Studiums war Nehlsen aktiv in der Studentenmission (SMD). Er erlebte auch die Anfänge der charismatischen Erneuerung. „Auf einer Tagung der Baptisten wunderten sich die Menschen damals, dass es auch einen gläubigen landeskirchlichen Pfarrer gibt“, sagt er. 1975 absolvierte Nehlsen das erste Examen und danach sein Vikariat in der Evangelischen Kirche von Westfalen. „Mit einem Freund zusammen reifte in dieser Zeit die Erkenntnis, nicht als ‚Pfarramtssolisten‘ tätig zu werden, sondern in Ergänzung der Gaben und Aufgaben in einer Gemeinde zu wirken und zusammenzuleben“, erinnert sich der Theologe im Gespräch mit pro.
Mit seinem Freund Karl-Leopold Kaufmann geht der junge Pfarrer nach Berlin. Dort übernehmen sie Pfarrstellen im Märkischen Viertel. Elf Jahre lang arbeiten und leben die Freunde dort in der Gemeinde eng zusammen. 1988 wird Nehlsen dann überraschend gefragt, ob er eine missionarische Arbeit in der Innenstadt anfangen möchte: im Foyer an der Gedächtniskirche.

Gottes-Erlebnis Mauerfall

Von 1988 bis 2002 wirkt Nehlsen daraufhin als Pfarrer in einer „Funktionspfarrstelle für missionarische Arbeit, Seelsorge und Projekte“ an der Gedächtniskirche. Er ist dort auch für die drei täglichen Andachten verantwortlich. Es bildet sich ein Arbeitskreis für missionarische Verkündigung, „mit der man in zehn Minuten Menschen, von denen man 95 Prozent nicht kennt, mit dem Evangelium erreichen kann“. Es sei „eine Art Situationsgemeinde“ geworden. Unter seiner Ägide entsteht ein charismatischer Abendgottesdienst unter der Woche. Nehlsen knüpft in dieser Zeit viele Kontakte zu anderen Werken und Diensten „quer durch den christlichen Blumengarten“, wie er sagt. Es ist ihm ein Anliegen, die unterschiedlichen Prägungen zusammenzubringen und mit den Qualitäten, die sie haben, das Gemeinsame darzustellen und nach vorne zu bringen.
Fast zeitgleich mit seinem Wechsel an die Gedächtniskirche wurde er damals in den Hauptvorstand der Deutschen Evangelischen Allianz (DEA) berufen. Dort leitet er seit zwölf Jahren den Arbeitskreis Gebet. „Ich habe auch etwas dazu beigetragen, dass sich die Allianz öffnete für verschiedene Gebetsstile und Frömmigkeitstypen“, ist Nehlsen überzeugt.
„Das Berlin-Erlebnis überhaupt, das Gottes-Erlebnis war für mich der Fall der Mauer“, sagt Nehlsen, weil er es mit vielen anderen damals live erlebt habe. „Am 10. November abends haben wir auf der Mauerkrone am Brandenburger Tor gestanden und mitgejubelt.“ Danach kamen Tausende von Menschen zur Gedächtniskirche, in der Nehlsen und andere dann stündlich Andachten hielten. „Wir müssen dieses Wunder Gottes in unserer Erinnerung wach halten. Es war ein völlig unerwartetes, nicht von Menschen gemachtes Ereignis und eine Wende in unserer Geschichte“, bewertet Nehlsen die historischen Ereignisse. Durch dieses Erlebnis sei das Bewusstsein für die Verantwortung für die Stadt als Ganzes und deren Zusammenwachsen gestiegen.

Gebet als Schlüssel

„Es gab kein Bewusstsein dafür, dass wir in dieser Stadt ein Leib, eine Kirche in den verschiedenen Denominationen und Konfessionen sind“, sagt Nehlsen. Am Ende einer Sabbatzeit wird ihm klar: „Mach dich verfügbar für einen übergemeindlichen Dienst für die ganze Stadt.“ Aus dem Gebetsfrühstück „Gemeinsam für Berlin“ (GfB) gründet sich 2001 der gleichnamige Verein, der Nehlsen dann anstellt. Dafür hat er sich von der Landeskirche beurlauben lassen und auf sein Gehalt verzichtet. Im Herbst werden es 14 Jahre. „Ich glaube, dass Gott mich vorbereitet hat durch viele Beziehungen.“ Die Evangelische Kirche habe seinen Dienst immer mit einer freundlichen Distanz begleitet, sagt Nehlsen. Eine hierarchische Institution wie die Kirche könne mit einem Netzwerk, das auf Beziehungen beruhe, nur schwer „connecten“.
Rund 180 Personen engagieren sich ehrenamtlich für „Gemeinsam für Berlin“. „Diese Menschen leben GfB als Haltung, nicht als Mitgliedschaft“, sagt Nehlsen. Dabei wollen sie die große Breite des kirchlichen Berlin abbilden. Nehlsen predigt viel in den einzelnen Gemeinden, quer durch die unterschiedlichen Ausprägungen. „Ich konnte mein Hobby zum Beruf machen, weil ich gerne mit Menschen ‚connecte‘, weil ich gerne neue Dinge anschiebe“, erklärt er. „Ich gestalte gerne mit anderen zusammen, nicht alleine als einsamer Visionär, sondern immer am liebsten im Team.“
Er hat von afrikanischen und asiatischen Christen gelernt über deren Art zu glauben. Auch von katholischen Michristen, oder von neuen, freien Bewegungen. „Vor etwa sechs Jahren haben wir beobachtet, dass die größeren Kirchen und Freikirchen zwar eine abnehmende Tendenz haben“, sagt Nehlsen. „Auf der anderen Seite haben wir aber viele neue Projekte und Initiativen in der Stadt entdeckt.“ Dazu gehören Dienste für Prostituierte, Gemeindeneugründungen von Menschen im Kiez, die ihre Nachbarschaft erreichen wollen, Projekte für bestimmte Zielgruppen, die Internetplattform „Gott in Berlin“ sowie eine Christliche Freiwilligenagentur, „F.B.G. – Firmen gründen nach biblischen Grundsätzen“. „Wir beobachten, dass von unten viel Neues und Kreatives wächst, was unorthodox ist, nicht institutionell“, merkt Nehlsen an.

Graswurzel und Mischwald

Diese Projekte vernetzt GfB. „Ich vergleiche die christliche Szene in Berlin gern mit einem Mischwald. Da gibt es die großen alten Bäume, die katholische und die evangelische Kirche, dann die kleineren Bäume wie die Baptisten und die Methodisten. Sie werden entweder neu ausschlagen oder langsam absterben. Dann gibt es Buschwerk und darunter alle möglichen kleinen Pflanzen, die manche für Unkraut halten – das sind diese neuen Graswurzelbewegungen. Neues entsteht und man weiß noch nicht, was das mal wird“, erklärt Nehlsen. Diese Graswurzelbewegungen liegen im Fokus der Arbeit. „Wir wollen nichts regulieren, sondern wenn überhaupt, Impulse geben.“
„Gemeinsam für Berlin“ sieht sich als eine Art Dienstleistungsunternehmen. „Wir sind Ideengeber für viele Dinge, aber nicht die, die es dann umsetzen“, sagt Nehlsen, „eine Art Katalysator im System Stadt, das die Ideen zusammenbringt.“ Aus Nehlsens Erfahrung müssen drei Faktoren erfüllt sein, damit ein Projekt in Berlin starten kann und nachhaltig bleibt: „Es muss einen echten Bedarf geben. Also nicht einen Bedarf, den die Christen definieren.“ Auf dieser Basis braucht es eine Person oder eine Gruppe, die uneigennützig für das Anliegen eintritt und das Miteinander koordiniert. Dritter wichtiger Gesichtspunkt ist der „richtige Zeitpunkt Gottes, der Kairos. Wenn eins davon fehlt, wird das Ganze scheitern“, bilanziert Nehlsen nach 14 Jahren Arbeit. Vor zehn Jahren habe es etwa eine Vielzahl amerikanischer Gemeindegründer in Berlin gegeben. „Sie vertraten die Auffassung: Wir wollen in den heidnischen Osten, hier war ja noch nie was“, schmunzelt der Pfarrer. Alle, die sich nicht vernetzten oder nicht erforschten, was für ihre Zielgruppe richtig ist, hätten dann nach kurzer Zeit wieder aufgeben müssen.
Noch bis Ende des Monats ist Nehlsen offiziell im Amt, dann geht er in Pension. Dann lässt er andere die Strippen im Büro in der Kastanienallee ziehen. Harald Sommerfeld, auch 1. Vorsitzender des Vereins, Andrea Meyerhoff und Ana Hoffmeister werden die Geschäfte des Vereins weiterführen. Nehlsen bleibt dem Verein weiter treu, will aber erst nach einer dreimonatigen Sabbatzeit entscheiden, wo er sich weiter engagiert. Was Gott ihm für die nächste Lebensphase als Schwerpunkte zeigt, darauf ist er gespannt. (pro)

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