Einen ihrer denkwürdigsten Auftritte legte die Soulsängerin hin, als sie schon über 70 Jahre alt war. 2015 wurde die Sängerin und Songschreiberin Carole King im Kennedy Center in Washington geehrt. King, die den Welthit „You Make Me Feel (Like a Natural Woman)“ mitgeschrieben hatte, traute ihren Augen kaum, als Franklin die Bühne betrat.
Gehüllt in einen schweren Pelzmantel, mit konzentriertem, aber entschlossenem Blick schritt Aretha Franklin unter tosendem Applaus auf die Bühne, setzte sich ans Klavier und feuerte eine Version von „You Make Me Feel“ ab, die später als eine der besten jemals aufgenommenen bezeichnet wurde. Franklin musste lange zum Auftritt überzeugt werden, berichtete die New York Times. Skeptisch war sie auch ob der Luft, denn die könne je nach Bühne Einfluss auf die Stimme nehmen. „Ich wollte eine beispiellose Performance.“ Als sie merkte, dass die Luft gut war, habe sie sich gedacht: „Raus aus dem Mantel! Ich fühle es! Los geht’s!“ Der Pelz fiel zu Boden, Aretha ging über in die Improvisation, und zwar mit einer Stimme, die so felsenfest klang wie die einer 30-Jährigen. Niemanden hielt es mehr auf den Stühlen. Die geehrte Carole King, im selben Alter wie Franklin, schmetterte voller Hingabe wie ein Teeniefan jede Zeile mit, Präsident Barack Obama verdrückte nicht nur eine Träne. Jeder im Saal wusste: Hier performt eine lebende Legende, vielleicht eine der größten Sängerinnen, die das Land je hervorgebracht hat.
Ihr Vater war Pastor
Ende der 1960er Jahre gelang Franklin mit „Respect“ der Aufstieg zum Megastar, sie wurde ein Gesicht der afroamerikanischen Bürgerrechtsbewegung. Zwar ordnen Beobachter die „Soul Queen“ als weniger politisch aktiv ein als etwa Mahalia Jackson. Dennoch beweist nicht nur ihr Auftritt zur Einführung der ersten Amtszeit des US-Präsidenten Barack Obamas im Januar 2009, dass die Rolle als nationale Ikone und Vorbild am ehesten Aretha Franklin gehört.
Wie bei so vielen Soulsängerinnen liegen auch Franklins Wurzeln im Gospel, und zwar nicht nur musikalisch. Ihr Vater C.L. Franklin war nicht nur ihr Mentor, sondern auch Pastor. Er gründete die New Bethel Baptist Church in Detroit, Michigan, und war mit Martin Luther King befreundet.
Nach fünf Jahren des säkularen Ruhms, den seine Tochter Aretha seit 1967 erlebte, gab sie in der New Temple Missionary Baptist Church in Los Angeles ein Gospelkonzert. Wobei die zeitgenössische Bezeichnung „Worship Service“, also Lobpreisgottesdienst, eigentlich besser passen würde: Geistliche Impulse, um auf das nächste Lied einzustimmen. Shout and Response mit dem Publikum, das irgendwie auch zum Akteur wird. Ergreifende, weil existenzielle und auch auf letzte Fragen gerichtete Emotionen, die den Gospel so einzigartig machen. Franklin sang nicht nur christliche Lieder, sie meinte sie auch so.
„One Lord, One Faith, One Baptism“ heißt Franklins Platte, die sie in der Kirche ihres Vaters aufzeichnete. Das war 1987 – und Franklin bereits eine Legende. Mit einer der wohl einflussreichsten Gospelsängerinnen des vergangenen Jahrhunderts, Mavis Staples, interpretierte sie ein „Oh Happy Day“, dem sie wider Erwarten doch noch Ungehörtes entlockte. Noch in den vergangenen fünf Jahren trat sie mehrfach in der Kirche ihres längst verstorbenen Vaters auf.
„Der Chor der Engel hat nun die großartigste Stimme“
Pastoren schaffen es selten, so zu leben, wie sie es in Predigten fordern. Ähnliches gilt für Aretha Franklin, deren Leben auch nicht von Eskapaden frei geblieben ist. Robert F. Darden, der Black Gospel Music erforscht, drückte es in Christianity Today so aus: „Aretha Franklin konnte oft nicht nach den Worten leben, die sie sang. Aber sie sang die Worte trotzdem und glaubte sie.“
Mit Aretha Franklin hat die Welt nicht nur eine herausragende Künstlerin und Identifikationsfigur verloren, sondern auch eine Frau, die selbstverständlich über ihren Glauben sang. Die Countrysängerin Faith Hill schrieb nach Franklins Tod: „Der Chor der Engel hat nun die großartigste Stimme aller Zeiten als Vorsängerin, um zu loben und gemeinsam vor Jesus zu singen.“
Von: Nicolai Franz