Spitzer bemängelt, dass digitale Medien dem Menschen geistige Arbeit und das Denken abnähmen. Durch ausbleibenden Input verfalle das Gehirn: "Passiert weniger im Gehirn, lernt man weniger, und die Gehirnwindungen bilden sich weniger aus", betonte der Wissenschaftler jetzt noch einmal im Interview mit der Nachrichtenagentur "Pressetext". Das Wort "Demenz" habe er deswegen für sein Buch gewählt, weil es sich um einen Abstieg handele. "Indem Maschinen etwa Updates selbst vornehmen oder E-Mails, Postings und SMS sofortige Reaktion erfordern, sind wir nicht mehr Herr über unser Tun. Diese Kontrollabgabe führt zu Stress, der wiederum Nervenzellen im Gehirn absterben lässt."
Medien verstärken bestehende Ungleichheiten
Das Phänomen "Digitale Demenz" hätten Wissenschaftler aus Korea erstmals 2007 benannt. Sie hatten einen kausalen Zusammenhang zwischen erhöhtem Medienkonsum und dem Merkvermögen sowie der Konzentrationsfähigkeit von jungen Erwachsenen bemerkt. Deutschlandweit seien laut aktueller Zahlen etwa drei bis vier Prozent der Bevölkerung internet- und computersüchtig. Ein Dorn im Auge ist Spitzer der hohe Medienkonsum auch, weil er zum Verlust sozialer Kontakte führe und vieles in der Gesellschaft oberflächlicher mache. Dieser Effekt verschärfe sich bei sozialen Randgruppen: "Medien verstärken bestehende Ungleichheiten und wirken dadurch unsozial statt sozial", sagt Spitzer.
Kein gutes Haar lässt er an der Politik, die sich in einer "unheiligen Allianz" mit den Medien befinde. Der Wissenschaftler schlägt deswegen vor, die jungen Menschen so lang wie möglich von den Medien fernzuhalten: "Ein Kind sollte seine Umwelt nicht zuerst über Tablet und Smartphone ansehen, sondern sie selbst begreifen, fühlen, erleben und handeln", wünscht sich Spitzer. Statt in Laptopklassen sollten die Schulen lieber in Lehrer investieren, da Bildung Personen brauche, zu denen eine Beziehung aufgebaut wird.
Nicht weniger, sondern besseren Umgang
Für "Cicero"-Autor Christian Jakubetz kommt es dagegen nicht auf weniger, sondern auf einen besseren Umgang mit Computern an. Wenn man Spitzers Argumentation folge, müssten auf der Liste der verbotenen Hobbys auch der Sport stehen, der Verletzungen verursache, das Fernsehen, das dumm mache und das Autofahren, das zu Aggressivität führe. Und auch auf das Leben selbst könne man verzichten, da es "erwiesenermaßen tödlich endet": "Es ist ziemlich absurd, von Dingen immer nur das Schlimmste zu erwarten und es ist noch absurder, einzelne Dinge oder Handlungen pauschal für irgendwas zu verantworten", meint der "Cicero"-Autor.
Spitzer bediene einigermaßen geschickt die digitalen Urängste einer analogen Generation, die zum großen Teil Neuerungen misstraue. Mit dieser Angst gehe der Wissenschaftler hausieren. Aber der Umgang mit einer digitalen Technik rücke nun einmal in den Vordergrund: "Es ist nur eine andere Kulturtechnik, die übrigens so viel Zugriff auf Wissen wie noch nie erlaubt", schreibt Jakubetz und bemängelt, dass dies von vielen Kulturpessimisten gerne verschwiegen werde.
Ein weiterer Punkt, den er Spitzer vorwirft, sei dessen Hang zur Nostalgie. Der "geplagte Analoge" freue sich, mit dem Computer einen Schuldigen gefunden zu haben. Dabei bringe gerade die Anpassung an aktuelle Technologien viele Fortschritte mit sich. Jakubetz plädiert dafür: "Es kommt nicht darauf an, den Umgang mit Computern und mit (digitalen) Medien zu reduzieren, ihn an Alters- oder Zeitbeschränkungen zu binden. Sondern darauf, statt von digitaler Demenz zu sprechen, den digitalen Graben einer modernen Gesellschaft wenigstens teilweise zuzuschütten. Wenn nicht, dann müssten wir an dieser Stelle auch mal darüber debattieren, ob nicht Bücher- und Zeitunglesen irgendwie doof machen kann."
"Demente Akkus wieder aufladen"
Polemisch geprägt ist der Kommentar von Gunnar Sohn in der Online-Ausgabe von "The European". Er schreibt zur "Causa Spitzer": "Erniedrigend empfindet der berühmteste ‚Bild‘-Gesprächspartner die zunehmende Smartphone-Intelligenz, die zu immer geistloseren Interviews mit seriösen Qualitätsprintmedien beiträgt. Als Schande für die Hochschullandschaft wertet er das Bekenntnis des Philosophen David Chalmers, der einen Teil seines Geistes dem iPhone von Apple überlässt."
Navigationsgeräte führten mit Spitzers Argumentation dazu, dass Menschen nicht mehr Norden und Süden unterscheiden könnten. Das Internet vermansche zudem sukzessive das Gehirn des Forschers: "Damit Manfred Spitzer wieder mehr Kontrolle und Selbstbeherrschung über sein neuronales Dasein bekommt, schlagen Ärzte und Apotheker das Computerspiel ‚Landwirtschaftssimulator‘ als geeignete Antistress-Therapie vor. Umgeben von Kühen, satten Weiden und langsam durch die Gegend tuckernden Traktoren kann der weltbeste ‚Bild‘-Neuro-Guru seine dementen Akkus wieder aufladen." Andere Computerspiele würden den Spitzer-Geist zu sehr beanspruchen: Kombinatorik, Strategie, Taktik, Reaktionsschnelligkeit, Raffinesse, Merkfähigkeit Feinmotorik seine nämlich die Grundlagen für erfahrene Gamer
Jeder Weg recht, um aus der Realität abzulegen
Auch der Journalist Stefan Niggemeier hat sich in seinem "Medienlexikon" in der aktuellen Ausgabe des "Spiegel" der Debatte um Spitzer angenommen. Er sei der "Thilo Sarrazin unter den Psychiatern". Das Gute an Spitzer, der als ärztlicher Leiter der Psychiatrischen Universitätsklinik Ulm arbeitet, sei, dass "man sich mit ihm nicht auf das einigen kann, auf das sich alle anderen sonst immer einigen können". Spitzer besteche durch eine erfrischende Radikalität, die sich auch von der damit "verbundenen Realitätsferne" nicht beirren lasse. Niggemeier bilanziert: "Er ist so überzeugt vom Ziel seiner Argumentation, dass ihm jeder Weg recht ist, es zu erreichen, egal, wie oft er dazu aus der Realität ablegen muss." Von der "Bild"-Zeitung wurde Spitzer übrigens zum berühmtesten Hirnforscher Deutschlands gewählt. (pro)