Die Bundestagsvizepräsidentin Yvonne Magwas räumt dieser Tage ihr Büro im sächsischen Vogtland. Akten werden eingepackt, Möbel herausgetragen, was niemand mehr braucht, landet im Müll. „Hier geht nicht nur für mich, sondern auch für meine Mitarbeiterinnen ein Kapitel zu Ende“, sagt sie im Gespräch mit PRO. Denn die 45-jährige CDU-Politikerin zieht sich aus dem Deutschen Bundestag und aus der Politik zurück. Dem nächsten Parlament wird sie nicht angehören. Nicht nur, aber auch wegen des Hasses, der ihr im Netz und im analogen Leben entgegenschlägt.
Es ist Anfang März des vergangenen Jahres. In Deutschland demonstrieren Massen für Demokratie und gegen Rechtsextremismus. Im sächsischen Auerbach, Magwas’ Heimatstadt, sind es rund 250. Mit dabei ist auch Magwas selbst. Als sie am Podium eine Rede hält, knallt es laut. Sie duckt sich weg, erinnert sich heute: „Ich dachte direkt an einen Anschlag, wollte mich fast auf den Boden legen.“
Der Knall stammt von einem illegalen Sprengkörper, der nur wenige Meter von der Politikerin entfernt explodiert ist. Die Polizei greift direkt zu. Der Täter wird noch vor Ort gefasst. Es dauert nur einige Sekunden, da hat Magwas sich wieder gefasst. Sie hält ihre Rede zu Ende. Um den Störern nicht nachzugeben, wie sie sagt. Im Nachhinein durchsucht die Polizei die Unterkunft des Festgenommenen und findet weitere Sprengsätze. Die Vermutung liegt nahe, dass er aus dem rechtsextremen Milieu stammt, da er Medienberichten zufolge in den Farben der Reichskriegsflagge gekleidet war.
Früher keine Angst um die Familie
Obwohl die Situation an diesem Tag schnell geklärt werden konnte, ist sie ein Schlüsselmoment für Magwas. „Mein erster klarer Gedanke war: Zum Glück habe ich meinen kleinen Sohn nicht mitgenommen.“ Es ist eine Idee, die die Politikerin weiter beschäftigt – bis sie einige Monate später entscheidet, aus der großen Politik auszusteigen. „Ich musste früher keine Angst um mich und meine Familie haben“, beschreibt sie, was sich verändert hat.
Seit 2013 sitzt sie im Hohen Haus. Auch der Ton im Parlament sei rauer geworden und zwar seit die AfD 2017 in den Bundestag einzog, sagt sie. Tendenz steigend. Es gebe mehr Ordnungsrufe im Parlament, die nicht zuletzt sie seit 2021 als Bundestagsvizepräsidentin verteilt hat. „Weil die AfD Hass schürt, beleidigende Dinge sagt, die deutsche Geschichte verklärt“, fasst sie zusammen. Das Ganze potenziere sich, weil die anderen Fraktionen teilweise auch „robust“ auf die Aggression antworteten. Bereits 2018 belegte die „Süddeutsche Zeitung“ diese Tendenz. In den wenigen Monaten seit dem Einzug der AfD in den Deutschen Bundestag sei damals „die politische Debatte im Parlament deutlich schärfer geworden, die Polarisierung hat zugenommen“. Eine Analyse von 1.500 Redebeiträge zeigte: Die Rhetorik der Politiker ist aggressiver, Zwischenrufe und abschätziges Verhalten wurden häufiger. Spitzenreiter bei den Ordnungsrufen durch den Präsidenten war 2023 die AfD.
„Beleidigungen muss niemand aushalten. Auch Politiker nicht. Wir sind kein Freiwild.“
Ein Ort für Hassbotschaften und Drohungen sind die Sozialen Medien. Nicht nur Magwas berichtet von Anfeindungen, echtem Hass, Beleidigungen. Eine nicht repräsentative Befragung der Technischen Universität München unter Politikern und anderweitig politisch Engagierten zeigte jüngst: Mehr als die Hälfte sieht sich von digitaler Gewalt betroffen. Mit weitreichenden Folgen: 56 Prozent der befragten Frauen und 47 Prozent der Männer fürchten demnach um ihre Sicherheitoder die ihrer Familie. Vor allem Frauen ziehen deshalb in Erwägung, sich aus der Politik zurückzuziehen. Magwas bestätigt das: „Seit ich ein Kind habe, denke ich darüber nach, was ich an Sicherheit gewährleisten muss, um meine Familie zu schützen.“ Die Polizei sei stets über ihre öffentlichen Auftritte informiert.
Beleidigungen im Netz kennt auch sie. Im Frühjahr 2024 bezeichnete AfD-Politiker Stephan Brandner sie auf „X“ als „bemerkenswert dumme Vizepräsidentin“. Magwas brachte das zur Anzeige – mit der Folge, dass die Häme noch zunahm. Es folgten Beleidigungen wie „Völkermörderin“ oder Aufrufe zu Gewalt gegen sie. Mancher wünschte ihr einen „Henker“ an den Hals. Doch sie bleibt dabei: „Beleidigungen muss niemand aushalten. Auch Politikerinnen und Politiker nicht. Wir sind kein Freiwild.“
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Das sieht freilich nicht jeder so. In einem Streitgespräch erklärte FDP-Vizechef Wolfgang Kubicki der „Zeit“: „Es gibt Dinge, die Politiker einfach aushalten müssen.“ Anlass war die Hausdurchsuchung bei einem Internetnutzer, der Robert Habeck online „Schwachkopf“ genannt hatte. Der damalige Wirtschaftsminister brachte das zur Anzeige. Und viele störten sich daran, sahen es als kleinkariert an. Magwas hat bis heute elf Anzeigen gestellt und würde auch vor dem „Schwachkopf“ nicht Halt machen. „Wenn Herr Kubicki sagt, das muss man aushalten, dann wüsste ich gern, wo die Grenze zu ziehen ist“, entgegnet sie.
Magwas wünscht sich mehr Hilfe für Politiker. Eine Beschleunigung der Verfahren wegen Beleidigung etwa, mehr Kontrolle der Plattformbetreiber, mehr Zivilcourage im Netz und Hilfe von politischen Verantwortungsträgern. „Was tun denn Parteien und Fraktionen, wenn ihre Politikerinnen und Politiker angegriffen werden? Bisher wenig! Da muss sich das System ändern“, sagt sie und hofft auf spezielle Anlaufstellen innerhalb politischer Organisationen für Drangsalierte. Denn die Gewalt schadet anscheinend nicht nur den Betroffenen. Die Nichtregierungsorganisation „HateAid“ warnte anlässlich der neuesten Münchener Studie über Gewalt gegen Politiker: „Digitale Gewalt beeinflusst, wie Politik ausgeübt wird.“ Wer nichts dagegen tue, riskiere, „dass Menschen am Ende nicht mehr bereit sind, diesen Job zu machen“.
Tür mit Kot beschmiert
Dass deren Zahl zunimmt, zeigt nicht nur der Fall Magwas beispielhaft. Immer mehr Prominente ziehen sich weit vor ihrer Zeit aus der Bundespolitik zurück, unter ihnen etwa der Sicherheitsexperte Michael Roth (SPD), Kevin Kühnert (SPD), Marco Wanderwitz (CDU). Bekannt geworden sind die harten Netz-Anfeindungen etwa gegen Ricarda Lang (Grüne) oder tätliche Gewalt wie gegen SPD-Europa-Politiker Matthias Ecke, der am 3. Mai 2024 beim Plakatieren im Wahlkampf angegriffen und sogar verletzt wurde. Er ist nicht der einzige. Bereits Ende April griff ein Unbekannter in Zwickau zwei Männer an, die Plakate der Grünen anbrachten. Zur gleichen Zeit wurde ein 25-Jähriger in Leipzig beim Aufhängen von Wahlplakaten der Partei Volt verletzt. Ähnliche Vorfälle gab es in Chemnitz und im brandenburgischen Schöneiche. In Schwerin bekam ein Landtagsabgeordneter der AfD einen Aschenbecher aus Glas an den Kopf und kam mit einer Platzwunde ins Krankenhaus.
Wer politisch aktiv ist, riskiert dieser Tage offenbar mehr denn je, öffentlich bedrängt zu werden wie Robert Habeck oder Katrin Göring-Eckardt. Ersterer wurde Anfang 2024 durch Demonstranten in Schleswig-Holstein gewaltsam daran gehindert, eine Fähre zu verlassen. In Brandenburg blockierte im Mai eine Gruppe Protestierender die Abfahrt von Göring-Eckardts Dienstauto. Mehrere Personen sollen auf das Fahrzeug eingeschlagen haben. Der einstige Innenminister Thomas de Maizière berichtete in einem Interview der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ von einem befreundeten Bürgermeister einer mittelgroßen Stadt. „Der sagt, er bekomme ab und zu menschlichen Kot an seine Tür geschmiert.“
Was kann die Kirche tun?
Geschichten wie diese kennt auch Anne Gidion. Sie ist in Berlin Bevollmächtigte des Rates der evangelischen Kirche und damit zugleich Interessenvertreterin ihrer Kirche in der Politik sowie Seelsorgerin im Deutschen Bundestag. Gegenüber PRO berichtet sie, dass Abgeordnete ihr immer häufiger offenbarten, sich unter Druck gesetzt zu fühlen. „Manche wollen das sich selbst und ihren Familien nicht länger zumuten“, sagt Gidion. Politiker, so folgert Gidion, sei ein „gefährdender“ Beruf geworden. Zwar nicht erst seit gestern, denn auch in früheren Zeiten habe es Drohungen und harte verbale Auseinandersetzungen gegeben. Doch die Lage sei „definitiv schlimmer geworden“.
Doch warum äußern Menschen auf Social Media und im analogen Leben Hass, Beleidigungen und Drohungen, lassen manchmal sogar Taten folgen? Gidion sieht bei vielen Menschen eine „Dünnhäutigkeit“, ausgelöst etwa durch die Erfahrung der Corona-Krise, den Krieg Russlands gegen die Ukraine und die Sorge um eine zunehmend schlechtere wirtschaftliche Lage. „In solchen Zeiten nimmt nicht die Toleranz zu, sondern der Wunsch nach Rückzug, nach Sicherheit und einfachen Lösungen.“ Hier sieht sie eine Aufgabe für die Kirche: Begegnungsräume schaffen, so, wie sie selbst es etwa durch Andachten, Abgeordnetenfrühstücke oder mit einem gemeinsamen Adventssingen von Politikern verschiedener Fraktionen versuche. Denn wo Verständigung nicht gelinge und der Hass überhandnehme, laufe die Gesellschaft nicht nur Gefahr, immer stärker auseinanderzudriften, sondern auch, immer mehr Politiker „zu verschleißen“.
Ein weiterer Kirchenmann im Deutschen Bundestag ist Frank Heinrich. Lange war er selbst Abgeordneter der CDU. Nun vertritt er die Evangelische Allianz in Deutschland im Hohen Haus. Und pflegt engen Kontakt zu manch ehemaligem Kollegen. Er kennt Drohungen und Hassbotschaften aus seiner eigenen Zeit. Heute, so sagt er, seien Frust- und Wutäußerungen, sogar Gewaltfantasien in sozialen Medien über Politiker in gewissen Kreisen akzeptiert. Bis hin zu echten Gewalttaten. „Ich zweifle daran, dass die Menschen böser geworden sind. Aber heutzutage ist es leichter, das, was man im Herzen trägt, auch öffentlich zu verbreiten“, sagt der Christ. Zudem hätten viele den Eindruck, man dürfe online alles sagen, was man will, ohne je dafür belangt zu werden.
„Ich erlebe auch einen höheren seelsorgerischen Bedarf bei Abgeordneten“, sagt Heinrich. Erst vor kurzem habe er mit einem Politiker dafür gebetet, dass Spaltung und Hass nachließen. Der Druck sei hoch, besonders auch bei ehrenamtlichen Kommunalpolitikern, die ebenso Gewalt und Häme ausgesetzt seien. Jungen Menschen, die trotzdem in die Politik gehen wollen, rät er, sich einen Mentor an die Seite zu nehmen sowie gute Freunde, denen sie vertrauen könnten, egal, was komme. „Das bewahrt die innere Hygiene“, so Heinrich. Gidion wünscht sich einen Kulturwandel im politischen Betrieb und dass über Schwächen und Sorgen offen gesprochen werden könne. „Das alles ist Teil des Lebens, Teil der Politik und niemand muss sich dafür schämen“, betont Gidion – auch mit Blick auf Jesus, der in der Bibel sagt: „Meine Kraft ist in den Schwachen mächtig.“
Dieser Artikel ist die Titelgeschichte der Ausgabe 1/2025 des Christlichen Medienmagazins PRO. Sie können die Ausgabe hier kostenlos bestellen.