Es ist nicht nur die schauspielerische Meisterleistung des jungen polnischen Schauspielers Bartosz Bielenia, der mit seinen ausdrucksstarken Augen, einer energiegeladenen Ausstrahlung und gleichzeitig jungenhaften Verletzlichkeit „Corpus Christi“ zu einem sehenswerten Highlight des Jahres macht. Die Geschichte um einen falschen Priester, der eigentlich in den Knast gehört, lässt viele theologische Fragen anklingen – vor allem die nach der Notwendigkeit von Vergebung in einer Welt voller Schuld.
Der 20-jährige Daniel (Bielenia) ist kein Unschuldslamm. Er hat gestohlen, war gewalttätig und ist am Tod eines Menschen schuld. Der Film beginnt mit seinen letzten Tagen im Jugendknast, nach denen er in einem Sägewerk auf dem Lande arbeiten kann. Den Ruf zum Priesteramt spürt er schon im Gefängnis, dort hilft er beim Verrichten des Gottesdienstes, und die Predigt vom geschundenen Christus, der die Sünden der Welt trägt, lässt eine Saite in ihm anklingen. Mehr durch Zufall gerät er in einem Dorf in die Rolle des Pfarrers einer Gemeinde.
Statt allen die Wahrheit zu sagen, fügt er sich in die Rolle des Dorfpfarrers ein. Zieht sich die Soutane über, nimmt die Beichte ab, hält Predigten. Eines stellt sich schnell heraus: Von den Sakramenten, der lateinischen Theologie und der Bibel hat Daniel wenig Ahnung, umso mehr von den Alltagsproblemen der Dorfbewohner. Und vor allem von Schuld.
Ist dieser Daniel nun ein schlechterer Seelsorger als ein echter Pfarrer? Welchen Unterschied macht es, ob sich ein ausgebildeter und geweihter Priester um die Schäfchen einer Gemeinde kümmert, oder jemand, der sich lediglich intensiv dazu berufen fühlt? Und hindert ein Vorstrafenregister daran, ein guter Geistlicher zu sein?
„Bete einfach, aus tiefstem Herzen“
Vorlage für dieses packende Drama ist ein Fall aus dem Jahr 2011, als ein 19-Jähriger namens Patryk Błędowskis in der kleinen Gemeinde Budziska drei Monate lang vorgab, Priester zu sein. Der gerade mal 38 Jahre alte Regisseur Jan Komasa schmückte die Geschichte ein wenig aus und begeisterte damit Kritiker und Zuschauer: Beim Polnischen Filmpreis 2020 erhielt „Corpus Christi“ elf von 15 möglichen Auszeichnungen, darunter als Bester Film, für die Beste Regie, den Publikumspreis, ebenso für Drehbuch, Kamera und Schnitt. Zu Recht schickte Polen den Film ins Rennen um den Oscar 2020 in der Kategorie Bester Internationaler Film.
Es ist der katholische Glaube, wie er in Polen vorherrschend ist, der im Film dargestellt wird – ein geweihter Vermittler zwischen dem Volk und Gott. Doch schon der Gefängnis-Priester zeigt Ambitionen, nicht nur die übliche Liturgie abzuspulen, sondern er will den Gläubigen vermitteln: Gott ist real, und ihr könnt euch selbst an ihn wenden. Daniel übernimmt diese schlichte Frömmigkeit und fasziniert mit seiner Lebendigkeit die kleine Gemeinde, die nur das übliche starre Gottesdienstprogramm gewohnt ist.
Der in Glaubensdingen unbedarfte Daniel steht also plötzlich vor der erwartungsvollen Gemeinde und vor der Aufgabe, den Glauben zu erklären. Daniel tut, was man in einer solchen Situation tut: Er improvisiert. Weil er ohnehin einen Priester nicht glaubhaft spielen kann, ist er einfach er selbst. Und genau damit findet er einen Schlüssel zur Gemeinde. Daniel kommt zu Gott, so wie er ist, mit seiner dunklen Seite. Und die Dorfbewohner packen mit ihren eigenen dunklen Seiten aus. „Bete einfach, aus tiefstem Herzen“, sagt der volksnahe neue Priester, von dem doch eigentlich erwartet wird, dass er die lateinische Messe abhält.
Am Ende ist die wichtigste Erkenntnis dieses tiefgründigen Dramas über Vergebung, dass wir alle eine dunkle Seite haben, und dass Christsein bedeutet, diese Seite Gott zu bekennen und um Vergebung zu bitten. Oder um es mit Daniel zu sagen: „Vergeben heißt lieben. Jemanden trotz seiner Schuld lieben.“
„Corpus Christi“, Polen 2019, 115 Minuten, Regie: Jan Komasa, Kinostart: 3. September 2020
Von: Jörn Schumacher