Der erste seiner Art

Zum ersten Mal seit dem türkischen Militärputsch von 1960 zieht ein Christ ins Parlament des Landes ein. Viele sehen die Türkei nach der Wahl des Anwalts Erol Dora auf dem Weg in eine tolerantere, weltoffenere, vielleicht europäischere Zukunft. Doch es gibt auch Zweifler.

Von PRO

"Wenn ich es schaffe, ins Parlament zu kommen, werde ich ebenso die Stimme der syrischen Gemeinschaft sein, wie auch die aller anderen Ethnien", erklärte Erol Dora Anfang Mai gegenüber der türkischen Onlineausgabe der Zeitung "Hürriyet". Nach der Wahl am Sonntag steht fest: Dora wird sich beweisen dürfen. Durch ein Direktmandat ist er als erster Christ seit 50 Jahren und als unabhängiger Kandidat der Kurdenpartei BDP ins türkische Parlament gewählt worden. Dort wird er einer übermächtigen AKP gegenübersitzen. Rund die Hälfte aller Wählerstimmen ging am Sonntag an die Partei des Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdogan.

Damit hat der Regierungschef zwar sein Wahlziel von einer Zwei-Drittel-Mehrheit verfehlt, der Sieg der konservativ-islamischen Partei ist dennoch mehr als deutlich. Agenturmeldungen zufolge erhielt die laizistisch-sozialdemokratische CHP rund 26 Prozent der Stimmen, die ultranationalistische MHP liegt bei 13 Prozent, die BDP bei rund sieben Prozent. Ihre Politiker waren als unabhängige Kandidaten gestartet, um die in der Türkei geltende Zehnprozenthürde für das 550 Sitze zählende Parlament zu umgehen. Mehr als 52 Millionen registrierte Wähler waren zur Stimmabgabe aufgerufen. Um deren Gunst bewarben sich 15 Parteien und 203 unabhängige Kandidaten.

Doras Sieg: Mehr als ein Symbol?

Einer davon ist Erol Dora. Obwohl sein Sieg politisch wohl nur geringe Auswirkungen haben wird, werten ihn viele als Symbol für eine offenere Türkei. Denn Dora gehört zu jener kulturellen Minderheit, die um die Landrechte am Kloster Mor Gabriel kämpft. Die Streitigkeiten zwischen dem Kloster, seinen Nachbardörfern und türkischen Behörden um seine Grundstücksgrenzen begann vor drei Jahren im Zuge von Landvermessungsarbeiten zur Erstellung von Grundbüchern nach den Vorgaben der Europäischen Union. In einigen Verfahren wurde für, in anderen gegen das Kloster entschieden. Mor Gabriel ist eines der ältesten Klöster der Christenheit. Obwohl syrisch-orthodoxe Christen in der Türkei heute nur noch eine kleine Minderheit sind, werden sie mit Einschränkungen des türkischen Staates konfrontiert, die das kulturelle Überleben gefährden. So dürfen sie ihre Sprache, das Aramäische, nicht lehren und ihren geistlichen Nachwuchs nicht ausbilden.

Dora sieht im Fall Mor Gabriel eines der größten Probleme der syrisch-orthodoxen Minderheit, wie er gegenüber "Hürriyet" sagte. Erdogan sah darin wohl vor allem eines der größten Probleme seiner Wahl. Wie die "Financial Times Deutschland" berichtet, ließ der Ministerpräsident den AKP-Abgeordneten Süleyman Celebi, der seit Jahren gegen die Mönche des Klosters prozessiert, nicht mehr als Kandidat für das Parlament aufstellen. Ob das ein gutes oder ein schlechtes Zeichen für die Christen im Land ist, bleibt abzuwarten. Erdogan hatte vor der Wahl angekündigt, eine Verfassungsreform anzustreben. Für diese braucht er nach Verfehlen der Zwei-Drittel-Mehrheit die Hilfe der Opposition.

Annäherung von Staat und Minderheiten

Dass sich gerade die Lage der Minderheiten in der Türkei nach dieser Wahl verbessern könnte, vermutet etwa der Soziologe Ayhan Aktar aus Istanbul. Gegenüber der "Rheinischen Post" erklärte er, es gebe eine sichtbare Annäherung von Staat und Minderheiten – das sei auch am Kandidieren mehrerer Christen, darunter Aramäer, Armenier und Griechisch-Orthodoxe, sichtbar gewesen. "Die Minderheiten fühlen sich heute wohler in der Politik", meint Aktar. Auch Dora sieht positive Entwicklungen. Im Gespräch mit "Hürriyet" sagte er, immer mehr syrisch-orthodoxe emigrierte Christen kehrten jüngst heim in die Türkei. "Menschen, die hinausgezwungen worden sind, kehren nun freiwillig zurück", so seine Worte.

Er selbst wurde 1963 in einem christlich geprägten Dorf im türkischen Südosten geboren. Wie der Berliner "Tagesspiegel" schreibt, wurde der Ort in den 90er Jahren von türkischen Sicherheitskräften geräumt. Der Staat ging so gegen die Rebellen der Untergrundbewegung PKK vor. Die Provinz Mardin, in der Dora nun gewählt wurde, gilt als ethnisch und religiös bunt gemischt. "Wenn hier jemand etwas gegen Christen hätte, dann hätte ich nicht kandidieren können", zitierte der "Tagesspiegel" Dora vor der Wahl.

Verbindungen zur PKK?

Doch nicht jeder zeigt sich optimistisch, was die Offenheit der Türkei angeht. So zitiert das "Domradio" den Zentralverband der Assyrer in Deutschland: Ob sich die Wahl Doras positiv auf das Leben der christlichen Minderheiten in der Türkei auswirken werde, sei ungewiss, so der Verband. Derzeit werde die assyrische Gemeinschaft im Hinblick auf Mor Gabriel stark unter Druck gesetzt. Daniel Ottenberg, Türkei-Experte des christlichen Hilfswerks "Open Doors", erklärte gegenüber pro, noch immer würden gerade die christlichen Minderheiten in der Türkei oft bedroht und in die Nähe terroristischer Vereinigungen gerückt. Schon vor der Wahl fragten sich manche, warum gerade Dora für die Kurdenpartei BDP antrat, der Verbindungen mit der PKK nachgesagt werden. Wenige Tage vor der Wahl wurde BDP-Vizechef Nihat Ogras wegen "Mitgliedschaft in einer Terror-Organisation" verhaftet. Die Parlamentskandidatin Hatip Dicle wurde wegen "PKK-Propaganda" zu zwei Jahren Freiheitsstrafe verurteilt, wie die "Welt" berichtet. In der "Financial Times Deutschland" erklärte Dora selbst: "Sie haben mich gefragt, und ich habe ja gesagt." Immerhin erkenne die BDP die Bedeutung der assyrischen Minderheit an. In der Tat ähnelt die Lage der Kurden in der Türkei der der syrisch-orthodoxen Christen. Wie sie haben auch die Kurden kein Anrecht auf Unterricht in ihrer Muttersprache und sind als Minderheit oft willkürlicher Schikane ausgesetzt, schreibt die "Financial Times Deutschland".

In seiner Siegesrede am Wahlabend versprach Erdogan, seine Regierung werde für alle Bürger arbeiten, gleich welchen Glaubens oder Lebensstils; ausdrücklich nannte er dabei laut Agenturmeldungen auch die christlichen Minderheiten. Ob diesen Worten Taten folgen, wird die neue Legislaturperiode zeigen. Denn auch die Stimme eines einzelnen Christen im Parlament, wird die Türkei nicht verändern – dafür braucht es nun die Regierung Erdogan. (pro)

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