Es sind Geschichten wie die von Emily Joy, die vor Monaten eine Debatte über Missbrauch und Sexismus in der Kirche ausgelöst haben, wie sie Amerika noch nie gesehen hat. Auf Twitter schrieb die Bloggerin im November 2017: „Ich werde jetzt mutig sein.“ Und weiter: „Als ich 16 Jahre alt war, versuchte ein Mann Anfang 30, mich zu verführen.“ Der Jugendleiter in ihrer evangelikalen Megachurch habe ihr schon Monate zuvor immer wieder Ratschläge gegeben, mit wem sie ausgehen solle und vor allem, mit wem nicht. Dann kamen anzügliche E-Mails und Textnachrichten. Joy fühlte sich derart bedrängt, dass sie sich ihren Eltern offenbarte. Der Jugendleiter verlor seinen Job. Die Gemeinde erfuhr nichts über die Gründe dafür. Laut Joy war sie nicht die einzige, die er bedrängte. Heute sei er andernorts für Teenager in einer Kirche verantwortlich.
Joys Tweet war eine Reaktion auf den einer Frau namens Audrey Assad. Auch sie berichtete davon, wie ein wesentlich älterer Mitarbeiter ihrer Kirche sie als junges Mädchen verführte. Das sei nichts anderes gewesen als „Missbrauch – ausgeführt von einer Person in einer machtvollen Position“, schrieb sie.
Auf die Kommentare der Frauen sind bis heute Tausende gefolgt. Unter dem Hashtag „ChurchToo“ – eine Anspielung auf die Sexismus-Debatte in der Filmbranche unter dem Titel „MeToo“ – twittern bis heute Betroffene über das, was sie innerhalb ihrer Kirchen erlebt haben. Das reicht von sexistischen Äußerungen bis zur Vergewaltigung durch den Pastor oder Kindesmissbrauch durch den Jugendleiter. Im April gab Willow Creek-Gründer Bill Hybels sein Amt als leitender Pastor der Megachurch ab, nachdem ehemalige Mitarbeiter ihm sexuelle Übergriffe vorgeworfen hatten. Spätestens seitdem ist vielen klar geworden: Missbrauch kann überall passieren. Auch in den frommsten Freikirchen.
In Deutschland bleibt es verdächtig ruhig
Trotz der Vorfälle um Hybels und des tausendfachen Missbrauchs in Pennsylvania bleibt es in Deutschland ruhig um das Thema. Die Kirchen selbst tun sich schwer damit, sich dazu zu positionieren. Zwar räumte die Referentin für Chancengleichheit in der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Kristin Bergmann, im Februar gegenüber der Monatszeitschrift Zeitzeichen ein, sexuelle Belästigung komme auch in Gemeinden vor. Darüber hinaus wollte sich die Evangelische Kirche gegenüber pro aber nicht zum Thema äußern.
Die Deutsche Evangelische Allianz betreibt seit einigen Jahren eine sogenannte Clearingstelle für Machtmissbrauch. Auf Nachfrage sieht diese sich aber nicht als auskunftsfähig für das spezifische Thema des Sexismus oder sexuellen Missbrauchs und verweist auf andere Stellen. Etwa das Weiße Kreuz, eine evangelische Organisation, die Menschen zu Fragen der Sexualität berät. Leiter Martin Leupold räumt ein, Missbrauch könne überall da vorkommen, wo Menschen über andere Macht haben. Starke autoritäre Strukturen erhöhten das Risiko. Das könne auch in der Kirche sein. Pauschalisieren will er das nicht: „Ich glaube nicht, dass Kirchen grundsätzlich gefährdeter sind als andere Organisationen.“ Tatsächlich sei der christliche Glaube an sich eher ein Hemmnis für Gewalt. Die Bibel verurteile Diskriminierung und Missbrauch scharf. Dennoch sieht Leupold einen Bedarf an einem offenen Gesprächsklima beim Thema Sexualität in Gemeinden. Es sei mancherorts nach wie vor ein Tabu. Besonders Opfer sexuellen Missbrauchs müssten wissen, wen sie ansprechen könnten und dass sie Gehör fänden.
Ein solches Opfer ist Ille Ochs. Die Schwester von Peter Strauch, dessen Lieder in vielen Kirchen gesungen werden, ging 2016 mit ihrer Geschichte an die Öffentlichkeit. In ihrem Buch „Im Käfig der Angst“ schreibt sie über den Missbrauch durch ihren Vater Karl Strauch. „Wir wissen heute, dass er pädophil war“, sagt sie im Gespräch mit pro über den mittlerweile Verstorbenen. Ehrenamtlich leitete Karl Strauch die Kinderarbeit in der Freien evangelischen Gemeinde, die auch Ochs besuchte. Er organisierte Freizeiten, bei Strauchs zuhause gingen Gemeindemitglieder ein und aus.
„Mein Vater stand hoch oben auf einem Sockel“, sagt sie. „Als ich ein Kind war, waren Leitungspersonen in der Kirche nahezu unantastbar – auch, weil sie als von Gott berufen galten.“ Der Vorbildcharakter von Leitern sorge auch heute noch dafür, dass Menschen in solchen Positionen seltener über eigene Probleme sprächen. Und denen, die sie anklagten, werde seltener geglaubt.
Obwohl Ochs sehr deutlich macht, dass der Missbrauch von schutzbefohlenen Kindern und der Missbrauch von erwachsenen Frauen sehr unterschiedliche Auswirkungen beim Opfer und auch grundverschiedene Ursachen beim Täter haben kann, sieht sie eine Gemeinsamkeit: „Wer missbraucht, will Macht über eine Person ausüben.“ Kirchen seien besonders gefährdet, denn innerhalb ihrer Systeme gebe es starke Machtstrukturen. Deshalb begrüßt sie die Debatte über „ChurchToo“. Sie plädiert für offene Räume, um das Gespräch über Missbrauch in den Kirchen zu pflegen.
Als Ochs an die Öffentlichkeit ging, sei sie von manchen als Nestbeschmutzerin wahrgenommen worden, die das Bild der Kirche schlecht mache. „Aber nur, weil wir nicht über etwas reden, geht das Problem doch nicht weg“, sagt sie. Wer hingegen Fehler bekenne und benenne, sei authentisch und werde auch so wahrgenommen – das gelte auch für Gemeinden. Sie ist sich sicher: „Wo Kirche ehrlich mit ihren Problemen umgeht, hat sie Überzeugungskraft.“
Dieser Text ist in ausführlicher Form erstmals in der Ausgabe 2/2018 des Christlichen Medienmagazins pro erschienen. Bestellen Sie pro kostenlos hier.
Von: Anna Lutz