Goldhagen forderte den Westen insbesondere mit Blick nach Tunesien dazu auf, "Anreize in Aussicht zu stellen – positive wie negative -, damit die Regierungen demokratischer und liberaler werden". Die kollektive Macht der Vereinigten Staaten und der Europäischen Union sei enorm. "Wenn sie Demokratie als zentrale Forderung erheben würden und im Zweifel wirtschaftliche Interessen zurückstellten, könnten wir viel erreichen."
Die Eliten des Nahen Ostens sollten eines wissen: "Wenn ihr unsere Unterstützung wollt, dann müsst ihr Demokraten sein." Demokratie müsse belohnt werden, auch in der Türkei, wo im Vergleich zum Iran geradezu "großartige Verhältnisse" herrschten. Der türkische Ministerpräsident Erdogan sei jedoch mit Vorsicht zu unterstützen – weil er im Bezug auf die Muslime in Europa Ansichten vertrete, die mit den Interessen des Westens nicht übereinstimmten.
82 Prozent der Ägypter für Steinigungen
Da es in den nordafrikanischen Staaten einen großen Anteil an Analphabeten gebe und ein großer Teil der Bevölkerung zwischen 15 und 30 Jahren alt sei, bestehe die Gefahr, dass viele junge und arbeitslose Männer für antidemokratische Bewegungen und Gewalt zu gewinnen seien. "Der politische Islam ist aber mit Demokratie und Freiheit nicht zu vereinbaren", erklärte Goldhagen im Gespräch mit den Journalisten Richard Herzinger und Claus Christian Malzahn.
"In Pakistan fordern 78 Prozent der Bevölkerung eine Rechtsordnung, die sich strikt am Koran orientiert", so der amerikanische Politikwissenschaftler. "In Jordanien wollen das 70 Prozent, in Ägypten immerhin noch 62 Prozent. Und das mitten im Arabischen Frühling." Die Aussicht auf Demokratie sei in vielen islamischen Ländern, von der Türkei abgesehen, schlecht. "Steinigung zum Tode für eheliche Untreue? 16 Prozent der Türken finden das gerecht, 82 Prozent der Ägypter, 70 Prozent der Jordanier, 82 Prozent der Pakistaner. Auspeitschen und Handabhacken bei Diebstahl fordern 13 Prozent der Menschen in der Türkei, 58 Prozent in Jordanien, 77 Prozent in Ägypten."
Auch beim Thema Religionsfreiheit seien die Zahlen besorgniserregend: "Immerhin fünf Prozent der Türken fordern die Todesstrafe, wenn ein Muslim dem Islam abschwört. In Ägypten sehen das 84 Prozent so, in Jordanien sind es 86 Prozent, in Pakistan immerhin noch 76 Prozent", erklärte Goldhagen.
Israel inmitten der Arabellion
Auf Israel habe der so genannte "Arabische Frühling" verschiedene Auswirkungen. "Einerseits hatte Ägypten bis jetzt gute Beziehungen zu Israel. Andererseits ist Aufruhr und Tumult in der Nachbarschaft für Israel immer schlecht. Wenn die Bevölkerungen aufgebracht sind, dann können die Machthaber die Unzufriedenheit immer nach außen lenken, zum äußeren Feind", erklärte Goldhagen und führte die Ausschreitungen gegen die israelische Botschaft in Kairo an. "Der syrische Diktator Baschar al-Assad und die dortigen Eliten sind zutiefst gegen Israel eingestellt und haben geholfen, den Libanon zu zerstören. Aber wie sollte Israel auf einen Sturz Assads reagieren?"
Ein Führer, den Israel sehr vermissen würde, wäre der jordanische König. "Denn es könnte dort ein palästinensischer Staat entstehen, der im Zusammenhang mit der Aufrüstung der Hamas möglicherweise sehr besorgniserregend wäre."
Abzug der Amerikaner bedroht Sicherheit der Iraker
Den von US-Präsident Barack Obama angekündigten vollständigen Abzug aller US-Truppen aus dem Irak bis Ende 2011 hält Goldhagen für falsch, weil in dem Land ein Sicherheitsvakuum drohe: "Ohne amerikanische Militärpräsenz sind im Irak Bürgerkrieg, ethnische Säuberung, wenn nicht sogar Genozid möglich." Der Westen habe Diktatoren in der arabischen Welt viel zu lange als kleineres Übel im Kalten Krieg toleriert. Nun gehe es darum, den Prozess der Demokratisierung schnell in Schwung zu bringen.
Der amerikanische Soziologe und Politikwissenschaftler Daniel Goldhagen hat unter anderem an der Harvard-Universität bei Boston gelehrt. Mit seinem Buch "Hitlers willige Vollstrecker" löste er 1996 eine öffentliche Debatte aus, weil er darin die Ursachen für den Holocaust in einem gesamtgesellschaftlichen deutschen Antisemitismus verortete. (pro)