„Davor hüten, dass die Politik dich auffrisst“

Der ehemalige Gesundheitsminister und langjährige Abgeordnete Hermann Gröhe scheidet aus dem Bundestag aus. Mit PRO blickt der Christ zurück: Ist der Ton schärfer geworden? Der Druck auf Politiker größer? Welche Rolle spielt die Kirche im Parlament?
Von Anna Lutz

PRO: Herr Gröhe, Sie sind seit 1994 Abgeordneter des Deutschen Bundestages, über 30 Jahre lang. Warum hören Sie jetzt auf?

Hermann Gröhe: Davor liegen noch einmal fünf Jahre als Bundesvorsitzender der Jungen Union. Es waren spannende 35 Jahre. Ich gehe mit großer Dankbarkeit, aber auch mit dem Gefühl, dass es jetzt gut ist und ich den Staffelstab gerne weiterreiche.

Martin Schulz sagte jüngst in einem Interview „Die Belastung in der Politik geht häufig über das Maß des Erträglichen hinaus.“ Ist der Politikbetrieb härter geworden?

Er ist wie unser Leben insgesamt schneller geworden. Konrad Adenauer ist 1953 noch mit dem Schiff zu politischen Gesprächen in die USA gereist, war 19 Tage unterwegs. Heute finden Auslandsreisen statt mit 30 Stunden Gesamtdauer.  Andererseits gab es auch damals harte politische Auseinandersetzungen, etwa über die Wiederbewaffnung. Doch sicherlich haben in den letzten Jahren Spaltungen in unserer Gesellschaft sowie Zuspitzung und Verbreitungsgeschwindigkeit in den sozialen Medien die Härte politischer Auseinandersetzungen verstärkt. Dennoch bleibe ich dabei: Es ist ein Geschenk, in einer freiheitlichen Demokratie Politik gestalten zu können!

„Ich denke, wer neben der Politik noch etwas anderes für ganz wichtig nimmt, die eigene Familie, die Begeisterung für eine Sportart, das kirchliche Engagement, was auch immer, der schützt sich und macht im Zweifel vielleicht sogar bessere Politik. Weil er weiß: Das ist nicht alles im Leben.“

Hermann Gröhe im PRO-Interview

Schulz sprach von „Atemlosigkeit in der Politik“, „von diesem Dauerdruck. Du hast nie Zeit nachzudenken.“ Haben Sie das auch erlebt als Gesundheitsminister, Generalsekretär, als stellvertretender Fraktionschef?

Das ist für jeden eine besondere Herausforderung. Politik musst du mit Leidenschaft machen und gleichzeitig musst du dich davor hüten, dass sie dich auffrisst. Ich denke, wer neben der Politik noch etwas anderes für ganz wichtig nimmt, die eigene Familie, die Begeisterung für eine Sportart, das kirchliche Engagement, was auch immer, der schützt sich und macht im Zweifel vielleicht sogar bessere Politik. Weil er weiß: Das ist nicht alles im Leben. Ich bin natürlich auch durch harte Belastungen gegangen. Im Rückblick war die physisch forderndste Aufgabe wahrscheinlich das Amt des CDU-Generalsekretärs, weil der auch an den Wochenenden sehr stark gefordert ist. Unsere Kinder waren damals noch klein. Die Familie kam oft zu kurz. Und am meisten habe ich mich geärgert, wenn ich an einem Geburtstag der Kinder nicht zuhause sein konnte.

Foto: Achim Melde/Deutscher Bundestag
Gröhe war Generalsekretär der CDU, Gesundheitsminister und Vize-Fraktionschef

Wie war das im Gesundheitsministerium?

Das Ministeramt war zum einen intellektuell fordernd. Denn ich musste mich ja in ganz viele Themen neu einarbeiten. Zum anderen sind praktisch täglich Entscheidungen gefordert, auch schwierige Entscheidungen unter zeitlichem Druck. Zeitmanagement ist da von besonderer Bedeutung und ein Team, auf das man sich verlassen kann. Zudem habe ich es als Vorrecht erlebt, mich mit herausragenden Expertinnen und Experten austauschen zu können. Denn für mich war klar: Ich unterschreibe nichts, was ich nicht verstehe.

Man sagt, das Gesundheitsministerium sei das am stärksten umkämpfte wegen der Kräfte der Pharmalobbyisten.

Kraftvolle Wahrnehmung wirtschaftlicher Interessen gibt es auch in anderen Bereichen und gehört wohl auch dazu. Politik darf sich davon aber nicht abhängig machen. Und die Lästerei über die Pharmaindustrie hört schnell auf, wenn man für sich oder einen Angehörigen auf einen Durchbruch in der Arzneimittelforschung hofft.

War das Ministeramt Ihr liebstes?

Ich bin vor allem leidenschaftlicher Parlamentarier. Mein wichtigstes Amt war daher das des Bundestagsabgeordneten.

„Spaltung und Verrohung einer Gesellschaft macht nicht vor Parlament halt“

Hat sich die Stimmung in diesem Parlament, das Sie so lieben, mit den Jahren verändert?

Der Blick von außen ist ja oft sehr widersprüchlich. Die einen sagen: „Ihr steckt alle unter einer Decke.“ Die anderen: „Ihr prügelt nur aufeinander ein.“  Das passt ja nicht zusammen. Das Miteinander im Bundestag ist in Summe besser als sein Ruf. Aber es gibt harte Auseinandersetzungen. Die Spaltung und Verrohung einer Gesellschaft macht auch nicht vor dem Parlament halt. Es gibt besonders aus den Reihen der AfD geradezu hassvolle Beiträge. Zugleich gibt es in allen demokratischen Parteien Menschen, denen ich mich freundschaftlich verbunden fühle und die mir jetzt gute Worte zum Abschied zurufen. Ich habe in meiner Zeit im Bundestag vor allem zwei Dinge gelernt.

Nämlich?

Erstens: Die Leute, die du zuvor nur aus dem Fernsehen kanntest, sind dann in der persönlichen Begegnung auch ganz normale Menschen und kochen nur mit Wasser. Zweitens: Im Parlament arbeitet man auf dichtem Raum oft jahrelang zusammen – auch parteiübergreifend. Im eigenen Fachgebiet oder in der heimischen Region kennt man manchen politischen Mitbewerber besser als den ein oder anderen Parteifreund im Hohen Hause. Das schafft auch menschliche Nähe. Du weißt, dass die Kollegin gerade zittert, weil ihre Mutter schwerkrank ist. Du weißt, dass der Kollege gestern gefeiert hat, weil die Tochter das Staatsexamen bestanden hat. Zugleich führen wir harte inhaltliche Auseinandersetzungen.

In der Tat. Nach dem Ampel-Aus haben sich FDP und SPD gegenseitig öffentlich das Vertrauen entzogen, in Sachen Migration warnte Robert Habeck Friedrich Merz vor „dem steilen Weg in den Abgrund“. Volker Wissing wurde bei der letzten Digitalkonferenz „Republica“ als „Feind der Menschheit“ bezeichnet, Olaf Scholz bei einer Wahlkampfveranstaltung in Brandenburg als „Kriegstreiber“. Sind die persönlichen Angriffe härter geworden?

Wer glaubt, das sei etwas Neues, der sollte sich mal die Redeschlachten von Franz Josef Strauß und Herbert Wehner ansehen. Da gäbe es heute mehr als eine Rücktrittsforderung. Ich würde grundsätzlich sagen, Politik sollte nicht auf persönliche Herabsetzung und Angstmacherei setzen, auch wenn wir die Sorgen der Menschen ernst nehmen müssen. Wir müssen etwa das Problem der irregulären Zuwanderung klar benennen, sonst tun es Radikale. Aber wir sollten es vor allem lösen und zugleich immer auch unsere Worte so wählen, dass wir nicht zur Verschärfung des gesellschaftlichen Klimas beitragen. Wir können ringen über die Frage, wie wir die Ukraine unterstützen. Aber ich fand es unanständig, dass Olaf Scholz den Eindruck erweckt hat, bei seinen Koalitionspartnern FDP und Grünen und bei der Union sei gleichsam der Frieden in Gefahr. Politik ist nicht glaubwürdig, wenn sie rhetorisch völlig überdreht. Zugleich brauchen wir die ernsthafte Auseinandersetzung, die Unterscheidbarkeit demokratischer Parteien. Sonst gewinnen die extremen Ränder.

Niemand stört sich an Auseinandersetzungen. Aber am Ton der Debatte. 

Im Ringen um Macht steht jeder in der Versuchung, zu überzeichnen. Bei aller notwendigen Leidenschaft für die eigene Überzeugung sollten wir uns vor der Herabwürdigung des Anderen hüten.

Zwei Kollegen aus Ihrer Fraktion, Yvonne Magwas und Marco Wanderwitz, kandidieren nicht wieder für den Bundestag, weil der Druck, die Diffamierungen von außen, die Bedrohungslage, zu hart geworden ist.

Das hat mich sehr erschüttert. Denn ich schätze beide sehr.  Gerade in den neuen Ländern, aber nicht nur dort, hat die Schärfe der Auseinandersetzungen zugenommen. Ich erinnere mich besonders an den Tag der deutschen Einheit 2016. Vor der Dresdener Frauenkirche riefen Rechtsradikale: „Volksverräter, haut doch ab!“ Das hat mir richtig wehgetan. Weil diese Rufe vor allem Angela Merkel galten, die ja selbst in der DDR aufgewachsen ist. Und weil meine Eltern 1958 aus Leipzig in den Westen geflohen sind. Meine größte Sorge war es immer, dass sich solche Stimmungsmache auch gegen meine Familie richtet. Denn sie ist für mich die entscheidende Kraftquelle neben meinem Glauben. Das ist uns aber ganz weitgehend erspart geblieben.

Sie selbst bekommen auch keine bösartigen Zuschriften?

Doch. Die gibt es schon. Vor allem Rechtsradikale wettern über mich, den „Merkelianer“. Ich lese das gar nicht alles. Etwas anderes ist es, wenn Verzweiflung die Feder führt. Weil ich gegen sogenannte Sterbehilfe, also Tötung auf Verlangen, bin, haben Briefeschreiber mir und meiner Familie schlimmste Krankheiten gewünscht. Oft aufgrund sehr schmerzhafter eigener Erfahrungen. Da schaue ich auf die Verzweiflung, nicht auf die Wortwahl.

Welche Angriffe haben Sie, neben jenem in Dresden, besonders getroffen?

Mich erschüttert regelrecht, dass es „Fake News“ bis in die Mitte unserer Gesellschaft geschafft haben. Die unhaltbare Behauptung etwa, die Weltgesundheitsorganisation ziele auf eine Gesundheitsdiktatur. Wir brauchen eine starke WHO – für die jährliche Grippe-Impfung und für die nächste Pandemie. Auch wie in der Corona-Zeit die Wissenschaft insgesamt in Zweifel gezogen wurde. Natürlich brauchen wir auch die öffentliche Debatte über unterschiedliche Auffassungen in der Wissenschaft – sicherlich aber keine Verachtung für die Wissenschaft schlechthin.  Und kaum zu ertragen ist es für mich, wenn von Seiten der AfD Hilfe für die Ärmsten in der Welt abgelehnt wird, in unverhohlener rassistischer Überheblichkeit. Es ist doch keine Leistung, dass wir in Deutschland geboren sind. Heute, morgen und übermorgen verhungern rund 9.000 Kinder vor allem in Afrika, die dasselbe Lebensrecht haben wie ich und Sie. Und in unserem Parlament gibt es eine Haltung von Rechtsaußen, die im Grunde sagt: Was kümmern uns diese Leute einer anderen Hautfarbe auf einem anderen Kontinent? Das empört mich.

„Mein Selbstverständnis wird durch mein Christsein stärker geprägt als durch meine Parteimitgliedschaft. Im Parlament verstehe ich mich aber nicht als Vollstrecker kirchlicher Positionen, so ernst ich sie nehme.“

Hermann Gröhe im PRO-Interview

Dennoch haben Sie mit Ihrer Fraktion in Sachen Migration für das Zustrombegrenzungsgesetz gestimmt. Ihre evangelische Kirche, zu deren Synode Sie gehören, erklärte dazu: „Der Gesetzentwurf ist aus Sicht der Kirchen (…) nicht geeignet, zur Lösung der anstehenden migrationspolitischen Fragen beizutragen.“ Was macht das mit Ihnen als Protestant?

Mein Selbstverständnis wird durch mein Christsein stärker geprägt als durch meine Parteimitgliedschaft. Im Parlament verstehe ich mich aber nicht als Vollstrecker kirchlicher Positionen, so ernst ich sie nehme. Ich akzeptiere auch, dass Kirchen ihren Auftrag darin sehen, die Aufnahmebereitschaft einer Gesellschaft zu fördern und die Herzen zu weiten. Aber ich habe den Eindruck, dass die Herausforderungen, etwa durch gescheiterte Integration, das Gefühl des Kontrollverlusts durch unkontrollierte Zuwanderung und die damit verbundenen Gefahren, in der innerkirchlichen Diskussion nicht ausreichend gewichtet werden.

Das habe ich auch auf der letzten Tagung der EKD-Synode in der Aussprache deutlich gemacht und zugleich zugespitzt formuliert: Manchmal treffe ich hier auf eine Selbstgewissheit, gegen die der Unfehlbarkeitsanspruch des Papstes geradezu demütig erscheint. Andererseits ist es auch mir sehr schwergefallen, für einen Antrag zu stimmen, der nur durch die Stimmen der AfD eine Mehrheit fand. Das sollte sich nicht wiederholen. Vor allem durch eine bessere Zusammenarbeit der demokratischen Parteien. 

Kirche und CDU: Gute Kontakte, aber auch Enttäuschungen

Sie sagten einst, Sie fühlen sich als Politiker und Synodenmitglied „für einen guten Gesprächskontakt zwischen der Union und den christlichen Kirchen mitverantwortlich“. Wie ist es um diesen Gesprächskontakt derzeit bestellt?

Es gibt gute Gesprächskontakte – und es gibt Enttäuschungen. Wechselseitig. Nicht wenige in den Kirchen hadern mit dem Tonfall mancher Unionspolitiker in der Flüchtlingsdebatte. Und in der Union beklagt man, dass kirchliche Stellungnahmen recht einseitig Positionen von SPD und Grünen übernehmen – bei gleichzeitiger Gewissheit, sich in Fragen kirchlichen Eigeninteresses vor allem auf die Union verlassen zu können.  Aber es gibt auf beiden Seiten auch engagierte Brückenbauer.

Als Sie 1994 in den Bundestag kamen, rechneten sich 72 Prozent des Parlaments einer Kirche zu, heute sind es noch 53. Spürt man diesen Unterschied?

Natürlich. Als ich neu in den Bundestag kam, gab es ein Ringen um embryonale Stammzellforschung in unserer Bundestagsfraktion. Und da hat ein CSU-Kollege dem damaligen Gesundheitsminister Horst Seehofer entgegengehalten: „Wann Leben beginnt, hat für mich der Heilige Vater abschließend entschieden.“ Ich denke, das würde heute auch ein gläubiger Katholik nicht mehr mit diesen Worten sagen. Die Säkularisierung macht vor der Politik nicht halt. Andererseits gibt es Kolleginnen und Kollegen, die zwar selbst keiner Kirche angehören, die aber durchaus auch in Bundestagsanhörungen die Stimme der Kirchen hören wollen. Weil sie ethische Mahner sind, Anwalt für Dritte, für Pflegebedürftige, für Schwerstkranke und Sterbende. Es gibt ein Gespür dafür, dass es in dieser Gesellschaft kälter wäre ohne Religion.

Zugleich müssen christlich geprägte Wertvorstellungen heute stärker erklärt werden, kann ihre grundsätzliche Bejahung nicht mehr einfach vorausgesetzt werden. Mir ist es allerdings wichtig, in diesem Zusammenhang nicht nur vorwurfsvoll auf den Glaubensverlust einer „bösen Welt“ zu blicken. Weltweit hat der entsetzliche Umfang des sexuellen Missbrauchs in den Kirchen deren Glaubwürdigkeit schwer erschüttert. Auch die Unterstützung vieler Evangelikaler in den USA für Präsident Trump ist in diesem Zusammenhang zu nennen.

Fällt es Ihnen eigentlich schwer, ausgerechnet jetzt zu gehen? Viele Themen, die Sie auch bewegt haben, sind ungeregelt oder werden eventuell neu geregelt: Organspende, Sterbehilfe, eine Neuregelung des Paragrafen 218 ist gerade abgewendet worden, es wird aber vielleicht eine neue Initiative aus der FDP heraus geben. Sie werden an diesen Debatten nicht mehr beteiligt sein.

Sicherlich wird es auch weiterhin ganz grundsätzliche Debatten geben, die mich umtreiben, die mit dem Bild vom Menschen zu tun haben. Ich wünsche mir mehr Organspender. Und gleichzeitig bin ich davon überzeugt, dass die sogenannte Widerspruchsregelung das Selbstbestimmungsrecht in unzulässiger Weise einschränkt – ohne dass sie etwas wirklich verbessert. Ich möchte am Lebensbeginn und am Lebensende Selbstbestimmung und Leben schützen. Das werden Debatten sein, an denen ich mich sicher auch in Zukunft beteiligen werde.

Können Sie das gemütlich von der Couch aus?

Nein, ich werde ja kein unpolitischer Mensch. Aber von der Bühne des Parlaments trete ich ab. An gesellschaftlichen Debatten werde ich mich allerdings weiter beteiligen, etwa als stellvertretender Vorsitzender der Konrad-Adenauer-Stiftung und auch in unserer Kirche.

Herr Gröhe, herzlichen Dank für das Gespräch! 

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