PRO: Frau Limperg, Sie sind in einer evangelischen Freikirche großgeworden. Welche Erinnerungen haben Sie daran?
Bettina Limperg: Für meine Eltern und die Verwandtschaft meiner Mutter hatten Glaube und Gemeinde einen sehr hohen Stellenwert. Dort fand ein sehr intensives und reges geistliches Leben statt. Ich erinnere mich gut an die „Stunden“, wie die Gottesdienste dort genannt wurden. Die Sonntagsschule war für uns Kinder ein fest gesetzter Punkt in der Woche. Auch in der Jugendarbeit gab es tolle Menschen, die mich geprägt und begleitet haben. Die Brüdergemeinde war geprägt von vielen wortgewaltigen Männern und sehr engagierten Frauen.
Wie blicken Sie heute darauf zurück?
Im Rückblick war das ein sehr konservatives, gleichwohl anregendes Milieu. Als Jugendliche habe ich mich aber aus dieser Gemeinde heraus entwickelt. Viele vermittelte Inhalte sind gleichwohl geblieben und haben mich geprägt.
Sie waren die erste Frau als Präsidentin des Bundesgerichtshofs. War
das sehr herausfordernd in einer Männerdomäne?
Es war eine große Herausforderung. Aber nicht wegen meines Geschlechts, sondern wegen des Amts. Der Bundesgerichtshof ist für jeden Richter eine wirklich beeindruckende Institution. Daher hatte ich größten Respekt und musste mich dem Haus erst einmal nähern. Deutschland hat auch weltweit einen guten Ruf als Rechtsstandort. Das alles repräsentiert man dann plötzlich mit vielen auch internationalen Kontakten. Ich hatte dafür kein Raster oder bewährte Strukturen. Manches habe ich intuitiv gelöst und insoweit vielleicht anders als ein männlicher Präsident. Mein Geschlecht war aber nicht das beherrschende Thema.
Was genau sind Ihre Aufgaben?
Die drei wichtigsten Bereiche sind die Verwaltung, die Rechtsprechung und die Repräsentation des Gerichts. Die große Bandbreite an Aufgaben macht für mich den Reiz aus. Es kann passieren, dass ich vormittags Recht spreche, nachmittags eine internationale Delegation empfange und dazwischen Verwaltungsaufgaben erfülle. Ich kann mir beruflich nichts Schöneres vorstellen.
In der Präambel des Grundgesetzes steht der Satz: „Im Bewusstsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen“. Was bedeutet er aus Ihrer Sicht im säkularen 21. Jahrhundert?
Über den Satz wird immer wieder diskutiert. Ich persönlich glaube, er meint auch heute noch das Bekenntnis des Grundgesetzes gegen jede Form von Totalitarismus. Der Satz richtete sich gegen alle fürchterlichen Verbrechen und Allmachts-Fantasien der Nationalsozialisten. Die Väter und Mütter des Grundgesetzes wollten einen Kontrapunkt setzen zu deren menschenverachtender Politik. Der Satz ist für mich damit auch Ausdruck eines historischen Gewissens. Er bedeutet aber nicht, dass Deutschland ein christlicher Staat und Einzelne auf das Christsein verpflichtet wären!
Sondern…?
Das Gegenteil ist der Fall. Unmittelbar danach folgen der Artikel 1 und die einzelnen Grundrechte. Sie sind in ihrer Summe ein ganz großes Freiheitsversprechen für die Glaubens-, Gewissens- und Meinungsfreiheit. Das prägt letztlich den Inhalt der Grundrechte. Aus meiner Sicht ist es ein Geschenk.
Würden Sie auch Ihre Arbeit als Richterin als Geschenk bezeichnen?
Auf jeden Fall. Das Grundgesetz ist eine unglaublich kluge Verfassung, die für jede Rechtsanwendung Leitschnur und Maßstab ist. Daran sind alle Richter gebunden und es prägt ihre Arbeit mehr als alles andere. Jeder von uns muss zurücktreten hinter das Recht. Das symbolisiert auch die Robe. Das Recht haben wir als Richter anzuwenden, unabhängig von unseren sonstigen Überzeugungen.
Hat der Satz aus der Präambel für Sie als Privatperson Konsequenzen?
Er rührt mich immer wieder an. Der Satz stellt den Menschen in ein großes Ganzes und löst die Individualität ein Stück weit auf. Gleichzeitig appelliert er an eine gewisse Demut in unserem Tun und Handeln. Der Aspekt der Verantwortung spricht mich persönlich sehr an.
Ist die Präambel mit dem Gottesbezug aus Ihrer Sicht noch zeitgemäß?
Zuletzt wurde diese Debatte intensiv im Zuge der Wiedervereinigung geführt. So wie ich die Präambel verstehe, als Zeichen der Verantwortung vor den Mitmenschen, finde ich sie noch immer wertvoll. Vielleicht passt sie sogar besser als je zuvor in unsere Zeit, in der wir immer mehr nach verbindenden Werten suchen müssen.
Inwiefern hilft Ihnen die Basis des christlichen Glaubens im beruflichen Alltag?
Wenn ich jetzt sage „Gar nicht“, klingt das hart und seltsam. Aber tatsächlich trenne ich das streng. Ich kann keine Glaubenselemente in meine Rechtsprechung übernehmen, sondern bin an Recht und Gesetz gebunden. Natürlich gibt es auch im Strafrecht den Schuldbegriff, aber er ist rechtlich definiert und hat nichts mit dem Schuldbegriff der Bibel gemeinsam. Natürlich gibt es Spielräume in der Rechtsprechung, zum Beispiel Generalklauseln. Aber die sind nicht dem Belieben anheim gestellt, sondern auch für deren Ausgestaltung gibt es Regeln. Ich muss trennen zwischen dem, was ich als Privatmensch denke, glaube und für richtig halte, und den Gesetzen des Staates.
Zur Person
Bettina Limperg, 60 Jahre, hatte nach ihrem Jura-Studium Stationen als Richterin und Staatsanwältin. Seit 2014 ist sie Präsidentin des Bundesgerichtshofs, des obersten Zivil- und Strafgerichts in Deutschland. Ehrenamtlich ist sie Präsidentin des Ökumenischen und des Deutschen Evangelischen Kirchentages. Sie wohnt mit ihrer Familie in Karlsruhe.
Gibt es Bereiche, in denen Kirche und Rechtsprechung voneinander lernen können?
Das ist eine gute Frage. Natürlich kann immer jeder von jedem lernen. Aber hier bin ich unsicher, ob die klassischen Zuschreibungen funktionieren. Hört die Kirche besser zu als die Rechtsprechung? Ist die Kirche demütiger als der Staat? Wir haben es mit zwei Institutionen zu tun, in denen es Konflikte und Machtstrukturen gibt. Ich bezweifle, dass ein Bereich grundsätzlich besser ist als der andere.
Mein Gedanke war, dass Kirche bei der Beurteilung von Menschen etwas lernen kann …
Wenn Sie die Institution Kirche meinen, dann mag das manchmal so sein. Der christliche Glaube selbst hat natürlich einen weiten und wunderbaren Blick. Wenn Sie mit Jesu Augen auf die Menschen blicken, dann gibt es bei ihm keine Aussätzigen. Er reicht jedem die Hand. Eigentlich sollte dieses Bild für die Kirche und die Rechtsprechung selbstverständlich sein. Beide müssen unvoreingenommen sein. Ich würde aber nie behaupten, dass einer der Bereiche das stets erfüllt.
Sie sind auch Präsidentin des Ökumenischen Kirchentages und des Deutschen Evangelischen Kirchentages. Wie kam es dazu?
Die Anfrage kam für mich wie aus heiterem Himmel. Nach reiflicher Überlegung habe ich zugestimmt. Vielleicht haben die Verantwortlichen mich gefragt, weil ich eine Frau bin, die sich schon häufig in Männerdomänen bewegt und Erfolge gehabt hat (schmunzelt). Beim Evangelischen Kirchentag wechseln sich zudem Frauen und Männer in der Präsidentschaft ab.
Was ist das Reizvolle an der Aufgabe?
Zum einen kann man viel bewegen! Aber man wird auch bewegt – die Kulturen des Gesprächs oder auch der Diskussion sind im kirchlichen Kontext ganz anders als bei den Juristinnen und Juristen. Da kann ich noch viel von der Laienbewegung Kirchentag und den unterschiedlichen Gremien lernen. Das ist manchmal anstrengend und manchmal großartig. In der Mischung ist es ein Geschenk.
Wie viel Zeit nimmt dieses Ehrenamt in Anspruch?
Mehr als man denkt. Natürlich geht es mit viel Arbeit in der Freizeit einher. Mal sind es intensive und anstrengende Phasen, aber ich erlebe auch viel Schönes. Es ist ein Ehrenamt und wie alle Ehrenämter, egal ob im Schützenverein oder im Kegelclub, macht es ja auch Spaß.
Was ist die größte Herausforderung in Bezug auf den Ökumenischen Kirchentag?
Ganz praktisch: das Corona-Virus. Es hält uns wahnsinnig auf Trab und sorgt für manches graue Haar und viele Falten. Wir mussten unzählige Male umplanen und dann kam doch alles anders als gedacht. Ansonsten reizt mich natürlich der ökumenische Blick auf die Welt. Meinem katholischen Kollegen Thomas Sternberg und mir war von Anfang an klar, dass wir mit dem Ökumenischen Kirchentag keine kirchliche Nabelschau abhalten wollten. Wir haben einen Auftrag in der Welt und für die Welt. Wenn wir diese Einheit im Blick haben, dann müssen wir uns an vielen Stellen und bei Problemen positionieren. Natürlich möchten wir auch Fortschritte in der Ökumene erzielen. Das ist ein durchaus steiniger Weg, bei dem wir einige Trennungen überwinden müssen.
Was sind da die größten Hürden?
Eines der größten Symbole der Trennung sind natürlich nach wie vor Eucharistie und Abendmahl. Das hängt eng mit dem Amtsverständnis und den unterschiedlichen Strukturen der Kirchen zusammen. Der „Synodale Weg“ zeigt für den katholischen Bereich auf, was den Laien weh tut. Mich persönlich beschäftigen Themen wie die Rolle der Frau, der Umgang mit Homosexualität und Sterbehilfe. Hier haben beide Seiten große Fragen an das jeweilige Gegenüber.
Hilft es dabei, eine Laienbewegung zu sein?
Natürlich. Da können wir uns ein Stück den Kirchen gegenüber positionieren. Das ist eine Chance und es befreit. Mit dem Motto für den Ökumenischen Kirchentag „schaut hin“ haben wir uns auch selbst gefragt, wo wir hinschauen wollen, auch wenn es weh tut. Das ist beiden Seiten ganz wichtig gewesen. Ich glaube, dass wir da Schritte vorankommen, auch im Bereich Eucharistie und Abendmahl.
Wie soll das konkret vor Ort aussehen?
Wir werden am Samstagabend Gottesdienste in der je eigenen Konfession
anbieten. Uns war wichtig, dass wir uns gegenseitig dazu einladen, uns kennenzulernen und unsere Türen für den anderen zu öffnen. Jeder Einzelne muss dann für sich und mit seinem Gewissen ernsthaft prüfen, ob er gemeinsam mit dem Gegenüber vor den Tisch des Herrn treten kann.
Was wünschen Sie sich für die Zukunft der Kirche?
Vor allem mehr Miteinander und den Mut, Konflikte auszutragen. Kirche muss sich da mehr zutrauen und sichtbarer handeln. Das habe ich auch in meinem Amt gelernt. Kirche darf sich nicht nur selbstgefällig mit sich selbst beschäftigen. Ich glaube nicht, dass wir für die Binnensicht auf unsere Probleme noch auf viel Verständnis hoffen können. Kirche soll in die Welt hineinwirken.
Zum Schluss: Verraten Sie uns Ihre Lieblingsbibelstelle?
Mein Lieblings-Bibeltext ist mein Taufspruch: „Gott hat uns nicht gegeben den Geist der Furcht, sondern der Kraft und der Liebe und der Besonnenheit.“ Ich habe mich ja als Erwachsene taufen lassen und habe diesen Satz selbst ausgesucht. Die Stelle spricht mich bis heute an und trägt mich. Furcht durch getragene Zuversicht zu ersetzen, diese Zusage Gottes gibt mir Kraft.
Vielen Dank für das Gespräch.
Das Interview ist in der Ausgabe 2/2021 des Christlichen Medienmagazins pro erschienen, das Sie kostenlos unter der Telefonnummer 06441/5667700 oder hier bestellen können.
Eine Antwort
„Das Grundgesetz ist eine kluge Verfassung“
Das ist ohne Zweifel richtig.
Um so zweifelhafter ist der zunehmende Drang, das GG durch ideologische Formulierungen, Ergänzungen, Sonderrechte, Umbenennungen und Verwässerungen zu verschlimmbessern.
Da wäre ich sehr dafür zu sagen: „Finger weg!“