„Das 20. Jahrhundert war theologisch gesehen eines der gottlosesten der Menschheitsgeschichte. Politisch gesehen wurde es auch deswegen zur humanitären Katastrophe“, schreibt Weimer. Nicht etwa die Attentate auf Amerika am 11. September hätten nun eine Neuorientierung und Rückbesinnung auf die Religion herbeigeführt, sondern vielmehr der Zusammenbruch von Faschismus und Kommunismus. „Die großen ideologischen Ersatzreligionen haben aus der Heimat aller modernen Kultur, aus dem guten, alten Europa die grausame neue Hölle gemacht – und es damit verraten.“
„Pendel Gottes ist zurückgeschlagen“
Die Katastrophe des 20. Jahrhunderts habe die „Sehnsucht nach einer religiösen Unbedingtheit zurückkehren lassen. Die theologiefreie Zone der Weltgeschichte ist implodiert. Lange vor dem 11. September ist das Pendel Gottes zurückgeschlagen“, so Weimer.
Auch in dem politischen Raum sei eine Wiederkehr des religiösen Bewusstseins zu beobachten. Angesichts eines Multikulturalismus in einer globalisierten Welt könnte das „Nationale als Identifikationsfigur der Massen“ nachlassen. „Vielleicht wird die Religion das neue Gefäß kollektiver Identität.“
Religions-Revolution
Die enorme Popularität des Papsttums sieht Weimer als ein Vorbote dieser Entwicklung. „Dass Millionen Jugendliche aus aller Welt ausgerechnet dem Vatikan zujubeln, hätte man vor wenigen Jahren für unmöglich gehalten. Die verblüffende Zuneigung zu Johannes Paul II. und auch zu Benedikt XVI. ist ein Indiz für die Religions-Revolution, in der wir uns befinden. Denn alles an ihnen scheint antimodern.“
Mediennutzer: Riesige Glaubensgemeinschaft
Die Mediengesellschaft beschleunige zudem dieses Entwicklung, da auch in ihr „Glauben“ an sich immer bedeutsamer werde. „Wenn sich immer mehr Menschen in einer Gesellschaft immer häufiger medial vermittelt bilden, definieren, unterhalten, trösten – dann brauchen sie ein immer größeres Maß an Vertrauen in das anonyme System – an abstraktem Glauben. Dieser medial erzwungene Glaube an die Wahrheit von Informationen, an die Kraft von Bildern, an die Kontingenz von Geschichten macht die Mediengesellschaft zu einer riesigen Glaubensgemeinschaft… Der eine verspricht, der andere glaubt ihm.“
Diese Interaktion beruhe auf Glauben, der unter den Menschen zirkuliere. „Und das umso mehr, je mehr die Versprechen anonymisiert, mediatisiert sind. Der Glaubensgrad der modernen Informationsgesellschaften steigt also gewaltig an“, meint der „Cicero“-Chefredakteur.
Positive Entwicklung
Die von ihm beobachtete Rückkehr der Religion hält Weimer für eine positive Entwicklung. Vielleicht sei das „Heimweh nach Gott“ bei dem Menschen des 21. Jahrhunderts der „Reflex auf die Raserei der Moderne, vielleicht braucht er religiöse Moral als ethischen Halt mehr denn je, vielleicht wird der Religiöse der eigentliche Revolutionär unserer Zeit, vielleicht wird er irgendwann erklären: Credo, ergo sum“, schreibt Wolfram Weimer in „Cicero“.
Der 41-jährige Weimer war viele Jahre Redakteur der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ und Korrespondent der „FAZ“ in Madrid, danach Stellvertreter des Chefredakteurs und Chefredakteur der Tageszeitung „Die Welt“. Seit der Gründung des Magazins „Cicero“ im Jahr 2004 ist Weimer Chefredakteur des im schweizerischen Ringier-Verlag erscheinenden Monatsheftes. „Cicero“ hat nach eigenen Angaben eine Auflage von knapp 60.000 Exemplaren.