Bei einer der ersten größeren Protestkundgebungen am 9. Juni 2019 waren schätzungsweise eine Million Menschen in Hongkong auf die Straßen gegangen. Seitdem finden in der Millionen-Metropole regelmäßig öffentliche Massenkundgebungen statt. Anlass ist eine von der Regierung in Peking geplante Novelle des Auslieferungsgesetzes für Hongkong.
Das Gesetz sieht vor, dass Vereinbarungen über die gegenseitige Rechtshilfe zwischen der chinesischen Sonderverwaltungszone Hongkong und jedem Ort außerhalb der Metropole getroffen werden können. Die Gegner dieses Gesetzesentwurfs befürchten, dass damit das Rechtssystem Hongkongs, das bisher weitgehend von dem der Volksrepublik China getrennt ist, ausgehöhlt werde. Anwälte, Journalistenorganisationen, Geschäftsgruppen und Regierungen im In- und Ausland kritisieren, dass die beim Rückzug Großbritanniens gewährleistete juristische Unabhängigkeit gegenüber Peking erodieren könnte. Die Proteste gelten als die umfangreichsten seit dem Tian’anmen-Massaker am 4. Juni 1989 und rufen weltweit ein starkes mediales Echo hervor.
Christliche Studenten starteten Trend
Seit einigen Tagen hört man bei den Protesten häufig vor allem ein Lied, das die Demonstranten singen. Es ist das christliche Lied „Sing Hallelujah to the Lord“, das als Text nur diese fünf Worte hat. Dass sich ausgerechnet dieser Song zur Protesthymne in der chinesischen Millionen-Stadt entwickelt hat, ist ungewöhnlich. Denn in Hongkong sind nur rund zehn Prozent der Einwohner Christen.
Wie die Nachrichtenagentur Reuters berichtet, singen die chinesischen Demonstranten dieses Lied immer wieder vor dem Legislativrat, der gesetzgebenden Versammlung der Sonderverwaltungszone Hongkong. Auch bei Zusammenstößen mit der Polizei stimmen viele Demonstranten derzeit immer wieder dieses christliche Lied an. Ein Video der Nachrichtenagentur zeigt die vielen Chinesen, die das Lied immer wieder anstimmen.
Angefangen hatte es Reuters zufolge mit einigen wenigen christlichen Studenten, die bei ihrem Protest christliche Lieder anstimmten, darunter auch „Sing Hallelujah to the Lord“. „Dieses Lied haben die Leute aufgegriffen, es ist leicht und hat eine einfache Botschaft“, sagte Edwin Chow, der 19-jährige Leiter der Vereinigung Katholischer Studenten in Hongkong.
Versammlungen dürfen dort ohne vorher eingeholte Erlaubnis abgehalten werden, wenn sie einen religiösen Hintergrund haben. Chwo erklärt: „Weil religiöse Versammlung vom Verbot ausgenommen sind, werden die Protestierenden dadurch geschützt. Außerdem zeigt es, dass der Protest friedlich ist.“
Das Lied „Sing Hallelujah to the Lord“ wurde 1974 von Linda Stassen-Benjamin in den USA anlässlich von Ostern komponiert. „Seine Melodie in Moll gibt ihm eine meditative Festlichkeit“, schreibt Reuters.
Regierungschefin ist selbst Katholikin
Der Protest auf Hong Kongs Straßen war seit den vergangenen zehn Tagen weitgehend friedlich. Am Mittwoch setzte die Polizei allerdings Tränengas und Gummigeschosse ein, um Menschenansammlungen auseinanderzutreiben. Auf einem Plakat war zu lesen: „Hört mit dem Schießen auf, sonst singen wir ‚Hallelujah to the Lord‘“. Manche Demonstranten berichten, das Lied habe schon manches Mal Spannungen mit der Polizei lösen können. Der 58-jährige Pastor Timothy Lam, der am Protest teilnimmt, sagte: „Es hat einen beruhigenden Effekt. Die Polizisten sind gut ausgerüstet, und sie sind angespannt. Wenn die Studenten dieses Lied singen, zeigen sie, dass sie friedlich sind.“
Die Regierungschefin der chinesischen Sonderverwaltungszone Hongkong, Carrie Lam, ist selbst katholisch. Lam, die eine katholische Mädchenschule besuchte, ist seit 2017 „Chief Executive“ für die Stadt im Auftrag der Regierung in Peking. Am 15. Juni 2019 verschob Lam den Gesetzentwurf auf unbestimmte Zeit. Manche Demonstranten gehen davon aus, dass das christliche Lied seinen Einfluss auf Lam gehabt habe.
Von: Jörn Schumacher