Christliche Helfer im Ahrtal: Gekommen, um zu bleiben

Vor zweieinhalb Jahren zerstörte die Flut im Ahrtal die Existenz viele Menschen. Christen haben damals die Hilfsorganisation „Hoffnungswerk“ gegründet und wollen weiter vor Ort helfen. PRO hat die Initiatoren bei ihrer Arbeit begleitet.
Von Johannes Blöcher-Weil
Der Ort Dernau (Landkreis Ahrweiler) am 15.07.2021. Er wurde beinahe komplett von den Wassermassen geflutet.

An diesem Freitag ist der Himmel bedeckt. Die 40 Zentimeter tiefe Ahr fließt gemächlich durch ihr Bett. Es scheint unvorstellbar, dass im Juli 2021 eine verheerende Flutwelle aus ihr emporstieg. Von den Folgen der Flutnacht zeugen heute noch die Bauruinen und das tonnenschwere Geröll am Straßenrand. An den Häusern ist deutlich zu sehen, wie hoch das Wasser damals stand.

Sascha Neudorf stammt selbst aus dem Flutgebiet. Der 42-jährige Theologe kann sich noch gut an den 14. Juli erinnern. Damals war er Pastor einer freikirchlichen Gemeinde in Siegburg. Als er mit seiner Schwester in Swisttal telefonierte, bat sie ihn, ihm eine Wasserpumpe vorbeizubringen. „Das ganze Ausmaß und das es im Ahrtal noch viel schlimmer war, konnte sich da noch niemand vorstellen“, erinnert er sich.

Das ändert sich am nächsten Morgen. Häuser waren unterspült und zerstört worden, Straßen und Bahngleise beschädigt, die ganze Infrastruktur der Region ächzte unter den Wassermassen. Und natürlich auch die Menschen. Die Flut im Ahrtal war eine der größten Naturkatastrophen in Deutschland seit Jahrzehnten. Was tun? Zwei Tage nach der Flut lädt Neudorf mit anderen Pastoren per WhatsApp zu ersten Hilfseinsätzen ein. Viele melden sich freiwillig, die Zahl steigt von 30 auf 70 Helfer. Am Sonntag nach dem Gottesdienst machen 120 Personen mit.

„Wir wollten keine Traktate verteilen, sondern einfach nur helfen“, sagt Pastor Sascha Neudorf. (Bild: PRO/Norbert Schäfer)

Das Gemeindehaus der Freien evangelischen Gemeinde Rheinbach, das auch von dem Unwetter betroffen ist, wird eine Art Leitstelle, um die Arbeiten und die Helfer zu koordinieren. Per YouTube wirbt Neudorf für die Arbeitseinsätze. Die Menschen im Ahrtal erleben eine Welle der Hilfsbereitschaft.

Mit dem Bollerwagen durch das Flutgebiet

Die Helfer pumpen Wasser ab, tragen Schlamm aus den Häusern, stemmen Putz und legen Wohnungen trocken. Die Gemeinde stellt den Pastor bald für dieses Projekt frei. Sehr schnell kreuzen sich auch die Wege mit dem Missionswerk „To all Nations“, das eine ähnliche Arbeit macht.

Daraus ist der Verein „Hoffnungswerk“ entstanden, dessen Geschäfte Neudorf jetzt führt. Auf eine christliche Satzung haben die Gründer bewusst verzichtet: „Wir wollten nicht missionieren, sondern helfen. Wenn uns jemand fragt, warum wir das machen, antworten wir aber gerne.“ In den ersten Wochen sind es vor allem die Bollerwagen-Teams, die mit Kaffee und Kuchen von Haus zu Haus ziehen und den Menschen eine kleine Auszeit während ihrer Arbeitseinsätze gönnen. Acht Monate ziehen die „blauen Engel“, wie sie aufgrund ihrer T-Shirt-Farbe bald genannt werden, auf festen Routen durch die Dörfer. Sie lernen die Betroffenen und deren Geschichten kennen. „Ihnen fehlte ja das Nötigste: vom Auto über das Bankkonto bis zur mentalen Kraft, sich um ihre Dinge zu kümmern.“

Einiges übernahmen die Mitarbeiter des „Hoffnungswerks“. Sie kümmerten sich um Autos, Waschmaschinen und die kleinen Dinge des täglichen Lebens: „Wir haben mit den Menschen geweint und gelacht“, sagt Neudorf. Es sind schwere Schicksale, von denen er berichtet. Da ist der 85-jährige Mann, dessen pflegebedürftige Frau vor seinen Augen ertrunken ist. Eine Frau wurde von den Wassermassen ihrer Garagentür erdrückt, als sie noch etwas aus dem Auto holen wollte. Und dann ist da der kleine Junge, der immer Klavier spielt, um den Regen zu übertönen.

Anlaufstelle des Hoffnungswerks
Anlaufstelle des Hoffnungswerks in der Altstadt von Bad Neuenahr-Ahrweiler (Bild: PRO/Norbert Schäfer)

Das Ahrtal hat circa 9.000 Haushalte. Neudorf rechnet vor: „Mit acht Menschen haben wir vier Tage gebraucht, um eine Wohnung zu säubern.“ Morgens um 9 Uhr wurden die Arbeiten eingeteilt. „Es war war klar, dass wir keine Traktate verteilen, sondern einfach nur helfen. Am Ende des Tages haben wir den Menschen angeboten, noch mit ihnen zu beten.“ Auch welche Gegenstände entsorgt werden sollen, entscheiden alleine die Betroffenen.

Zur praktischen Hilfe kam bald die psychologische Unterstützung der Betroffenen: „So ein Unglück ist ja nicht nur eine äußere, sondern auch eine innere Katastrophe.“ Das Vereinsleben war tot und die Restaurants geschlossen. Deswegen haben die Verantwortlichen Begegnungsorte geschaffen: der erste Café-Bus wird eingerichtet, der für Betroffene als Anlaufstelle dient.

„Wer hierher kommt, hat den ersten Schritt getan“

Das „Hoffnungswerk“ gründete Wohngemeinschaften, in denen die Helfer bis heute leben. Die erste Gruppe ist in ein zerstörtes Hotel an der Ahr eingezogen, die zweite in die Innenstadt von Ahrweiler. Hier gibt es im Erdgeschoss ein Café, das als Treffpunkt für die Menschen dient. „70 bis 80 Prozent unserer Besucher sind Stammgäste“, sagt Eva Gröber, die seit November für das „Hoffnungswerk“ arbeitet.

„Wer hierher kommt, hat den ersten Schritt getan“, erzählt sie. Gröber hat auch mit anderen Kontakt, die sich noch davor scheuen, unter Menschen zu gehen: „Auch wenn es ihnen gut tun würde. Die Flut ist wie eine Zäsur. Sie teilen ihr Leben ein in die Zeit vor und in die Zeit nach der Flut.“ Wer sich hier nachmittags verabredet, spielt gemeinsam oder genießt den Austausch mit den anderen. Eine junge Frau sitzt auf dem Sofa und verarbeitet ihre Erlebnisse, indem sie sie aufschreibt.

Mittlerweile treffen sich die Menschen auch außerhalb der Öffnungszeiten. Nach und nach öffnen sich die Menschen und erzählen von der Flutnacht. „Von uns aus sprechen wir das Thema nicht an“, sagt die 53-Jährige. Die Menschen haben nicht nur ihren gesamten Hausrat verloren, sondern auch Erinnerungsstücke, wichtige Unterlagen und Fotos.

Direkt neben dem Café befindet sich ein weiterer Raum, in dem regelmäßige Angebote für Kinder und Jugendliche stattfinden. Sie sollen hier unbeschwert Spaß haben und Gemeinschaft erleben. Ein weiteres Projekt ist der Kids-Bus. Hier dürfen von der Flut betroffene Kinder ihren Geburtstag feiern und bekommen ein Programm geboten.

„Ein Trauma läßt sich nicht aus der Distanz bearbeiten“

Direkt nach der Flut ging es vor allem um schnelle Hilfe. Jetzt steht der Verein davor, die Arbeit möglichst nachhaltig zu gestalten: „Viele Mitarbeiter wohnen im Ahrtal und kennen die Bedürfnisse der Menschen.“ In den Teamsitzungen werden die Ideen besprochen, die Finanzierung geprüft und dann umgesetzt. Sascha Neudorf weiß mittlerweile sehr genau, bei welcher Stiftungen er für seine Projektideen anfragen kann.

Aljona Barz kümmert sich als Trauma-Pädagogin und Trauma-Fachberaterin um die Menschen im Ahrtal. (Bild: PRO/Norbert Schäfer)

Eines dieser Projekte ist der Begegnungsort in Altenahr. Das dreistöckige Haus hat der Verein zwei Jahre lang renoviert und es soll im April eingeweiht werden. Dann starten auch hier Angebote für alle Altersgruppen. Im Obergeschoss wohnen schon etliche Helfer. Eine der WG-Bewohnerinnen ist Aljona Barz. Die 36-Jährige arbeitet als Trauma-Pädagogin und Trauma-Fachberaterin für das „Hoffnungswerk“. Die junge Frau ist aus Bielefeld ins Ahrtal gezogen: „Ein Trauma läßt sich nicht aus der Distanz bearbeiten“, sagt sie.

Vor Ort ist ihr die Beziehung zu den Menschen am wichtigsten. Barz begleitet selbst und vermittelt an das Trauma-Hilfezentrum, das die Betroffenen von Seiten des Bundes unterstützt: „Viele Menschen haben zweieinhalb Jahren nicht darüber gesprochen, was sie erlebt haben.“ Das möchte Barz unbedingt ändern: „Die Menschen leiden darunter, dass sie nicht mehr das leisten können, was sie vor der Flut geschafft haben.“

Deswegen versucht Barz mit ihnen, die Freude am Leben zurückzugewinnen, damit die Wunden heilen können. „Das gelingt am besten in funktionierenden Beziehungen“, betont sie. In manchen Orten sind nur 30 Prozent der Häuser wieder bewohnt. Die Menschen leben in Ferienwohnungen oder sind schon oft umgezogen. „Die ständigen Veränderungen des Umfelds verändern auch die Menschen.“

Spielsucht, Alkohol und Drogen sind große Themen

Barz hat aber auch die Jugendlichen im Blick, die häufig keine Perspektive haben und nicht wissen, wofür sie sich eigentlich anstrengen sollen: „Sie empfinden sich selbst als Last.“ Dazu habe auch die Corona-Pandemie einen Beitrag geleistet. Spielsucht, Alkohol und Drogen seien auch schon bei Zwölfjährigen ein großes Thema.

Viele jüngere Kinder fühlten sich einsam, weil die Eltern den ganzen Tag auf der Baustelle sind: „Sie werden krank, damit sich ihre Eltern um sie kümmern.“ Diese Lücken wollen die Mitarbeiter des „Hoffnungswerks“ füllen: „Um ein Trauma zu verarbeiten, hilft den Kindern Bewegung.“ Barz moniert, dass es in Deutschland insgesamt zu wenige Therapieplätze gebe. Das Trauma-Zentrum  biete unbürokratische Hilfe für fünf Beratungsgespräche an, für die anschließende Therapie gebe es aber lange Wartelisten.

Das Haus in Altenahr soll ein sicherer Hafen für die Kinder sein. Im Keller sind Jugendräume eingerichtet. Abenteuertreffs in der Natur oder gemeinsame Schwimmkurse mit „Sportler ruft Sportler“ sollen den Kindern die Angst vor der Natur und dem Wasser nehmen. Barz erzählt von einem Jungen, der am vierten Tag des Schwimmkurses wieder fröhlich ins Becken gesprungen ist.

70 Ehrenamtliche sind aktiv

Im katholisch geprägten Rheinland ist das „Hoffnungswerk“ mit den vielen öffentlichen Akteuren und Kirchen vernetzt. Auf Leitungsebene gibt es regelmäßige Treffen, in denen für konkrete Anliegen gebetet wird. 23 Mitarbeiter hat das „Hoffnungswerk“ aktuell: etwa ein Drittel mit einer vollen Stelle, die übrigen sind Teilzeit-Mitarbeiter, Minijobber oder im Freiwilligen Sozialen Jahr. Noch immer helfen 70 Ehrenamtliche regelmäßig mit, die nicht nur aus christlichen Gemeinden stammen.

Das Vereinsleben liegt größtenteils noch am Boden. Neudorf kennt ein Blasorchester in der Nähe, dessen gesamtes Vereinsheim mit Noten und Instrumenten weggeschwemmt wurde. Hier finden wieder Proben in einem Container statt. Andere Vereine zögern noch mit einem Neustart, weil sie nicht wissen, ob er nachhaltig sein wird.

Früher bestand die Gefahr eines solchen Hochwassers alle 100 Jahre. Heute gehen Experten davon aus, dass jede Generation einmal davon betroffen sein wird. Die Menschen überlegen, ob sie einen Neuaufbau wagen oder doch lieber wegziehen sollen. Denn Schutzmaßnahmen sind im Ahrtal nur begrenzt möglich. Neue Brücken sollen so konzipiert werden, dass sich dort nicht mehr so viel Treibgut stauen kann.

„Noch zehn bis 15 Jahre tätig sein“

Mögliche Versäumnisse der Politik sind für Neudorf auch gar kein Thema. Natürlich habe es etwas gedauert, bis ein System für die Krise etabliert war: „Aber es ging ja auch um viel Geld.“ Viele der Flutopfer hätten sich geschämt, Anträge auf Hilfe zu stellen und ihre Finanzen offen zu legen, weil sie bis dahin wohlsituiert waren.

Von den 257 Organisationen, die zu Beginn der Flut im Ahrtal waren, haben viele ihre Arbeit beendet. Das „Hoffnungswerk“ möchte bleiben. Nachhaltig und ohne Abhängigkeiten zu schaffen. „Noch mindestens zehn bis 15 Jahre“, verspricht Neudorf. Seitdem sie ihre Arbeit begonnen haben, haben sie viele Wunder erlebt: auf der Suche nach Unterkünften sowie der Finanzierung der vielfältigen Projekte.

Kurz nach der Flut habe er mit vielen Helfern gesprochen. Sie waren froh, dass sie hier ihren Glauben in die Tat umsetzen und Nächstenliebe ganz praktisch üben konnten. Spätestens zu diesem Zeitpunkt habe er gewusst, dass das „Hoffnungswerk“ hier an der richtigen Stelle im Einsatz sei, bilanziert Neudorf.

Dieser Artikel erschien zuerst in PRO – Das christliche Medienmagazin, Ausgabe 2/2024. Sie können die Ausgabe hier bestellen.

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