Radikale Parteien am rechten und linken Rand könnten bei der Bundestagswahl erstmals mehr als ein Viertel der Stimmen bekommen. Es wäre kurzschlüssig, darin nur eine Antwort auf die Unzulänglichkeit der Ampel-Regierungsbilanz und des alternativen Politikangebots der Opposition zu sehen, denn Polarisierung und Radikalisierung sind ein internationaler Trend in freien Gesellschaften.
Dies weist auf eine Kulturkrise hin, die mit den Wählern selbst zu tun hat: nicht nur mit ihrer Verunsicherung durch die Häufung von Krisen – Demografie und Migration, Wirtschaft und Klima, Pandemie und Krieg -, sondern auch mit veränderten Formen ihrer Meinungsbildung und womöglich mit dem Schwund von Bürgertugenden, zu denen auch Mäßigung, Demut und Nachsicht gehören.
Die Auflösung der Kompetenzordnung im Internet, besonders in „sozialen Medien“ mit ihren Selbstbestätigungszirkeln, begünstigt oberflächliches „Dafürhalten“, kenntnisfreie Inbrunst, Manipulierbarkeit, Verwirrung durch gleiche Wirkungschancen von Wahrheit und Lüge bis hin zu gezielten Desinformationskampagnen feindlicher Mächte.
Ein Dilemma
Öffentliche Meinung wird immer plausibler definierbar als „der Lärm, der entsteht, wenn Leute mit ihren Brettern vorm Kopf durcheinander rennen“. Anpolitisierte Politik-Ignoranten werden zur leichten Beute für simplifizierende Demagogen und ihre Scheinplausibilitäten, die sich erst viel später als verderblicher Irrtum herausstellen.
Für die traditionellen Parteien tut sich mit dem Wachsen der extremen Ränder ein Dilemma auf: Entweder gehen sie „artfremde“, ideologisch divergierende Mitte-Koalitionen ein, die womöglich auch noch drei oder vier Parteien umfassen, womit Streit und Enttäuschung ihrer je eigenen Wählerklientel programmiert sind. Oder sie lassen sich mit Populisten und Radikalen der tendenziell eigenen ideologischen Richtung ein, in der Hoffnung, diese mäßigen und „entzaubern“ zu können; hier droht aber ebenfalls Streit – und zusätzlich ein Verlust an Rationalität des Regierens, eine Unterwanderung staatlicher Institutionen durch Extremisten, eine Zerreißprobe der eigenen Partei und die Vertreibung moderater Wähler. Pflegt ein extremistisch infiltrierter Koalitionspartner Verbindungen zu ausländischen Diktaturen, steht zudem die nationale Sicherheit auf dem Spiel.
Gerade Deutschlands Geschichte lehrt: Der Versuch einer Einhegung von Extremisten durch Regierungsbeteiligung kann letztlich das demokratische System zerstören. Und das in kurzer Zeit: Der Versuch der Weimarer Konservativen, die Nazis zu domestizieren und zu entzaubern, führte binnen Monaten zur Vernichtung der inneren Freiheit und nach wenigen Jahren zum Krieg. Am Ende des völkisch-nationalistischen Furors lag Deutschland in Ruinen und hatte im Rassenwahn ein monströses Verbrechen an den Juden und anderen Minderheiten begangen.
Kein Wunder, dass danach eine erfolgreiche Wiederbelebung der konservativen Parteien ausblieb, sondern ein ideell neues, christlich-demokratisches Projekt im Mitte-Rechts-Spektrum entstand. Die CDU mied für Jahrzehnte schon allein das Wort „konservativ“ in ihrer Programmatik und sich orientierte sich neu als dezidiert europäische, pro-westliche, liberal-rechtsstaatliche und sozial integrative Kraft der politischen Mitte.
Links der Mitte grenzten sich die Sozialdemokraten scharf von ihren über Marx und Engels entfernt Verwandten linksaußen ab. Nach den Erfahrungen der DDR-Diktatur, aber auch schon erbitterter Kämpfe in der Weimarer Republik begriffen sie die Kommunisten als „rot lackierte Faschisten“, von denen sie unter der Knute des stalinistischen Sowjetrusslands in eine „Sozialistische Einheitspartei“ gezwungen worden waren. 1998 wagte die SPD in Mecklenburg-Vorpommern erstmals eine Koalition mit der SED-Nachfolgepartei PDS; in Sachsen-Anhalt hatte sie sich zuvor von dieser tolerieren lassen.
Ende der Brandmauer würde Union spalten
Könnte die CDU heute nicht ebenso mit der AfD verfahren, so wie die ÖVP mit der FPÖ in Österreich? Dagegen spricht das von Verfassungsschutzämtern analysierte Extremismuspotenzial der AfD, mit der selbst Frankreichs und Italiens Rechtspopulisten nichts zu tun haben wollen, und auch ein Wählerschafts-Vergleich zur Linkspartei: Infratest dimap ermittelte 2019 auf die Frage nach der Bedeutsamkeit von Grundrechten unter AfD-Anhängern signifikant schwächere Werte als unter denen der Linken bei der Würde des Menschen, der Gleichberechtigung von Mann und Frau, dem Verbot von Diskriminierung aufgrund von Abstammung, Sprache, Religion oder politischer Einstellung, der Glaubensfreiheit und dem Asylrecht. Das Demonstrationsrecht und die Meinungs- und Pressefreiheit schätzten beide ungefähr gleich; nur dem Schutz der Wohnung und Privatsphäre sprachen mehr AfD-ler als Linke „sehr große“ Bedeutung zu.
Dass Volksentscheide bessere Entscheidungen als Parlamente ergeben, meinten 50 Prozent der Linken- und 86 Prozent der AfD-Anhänger, dass Staat und Verwaltung insgesamt gut funktionieren, 42 Prozent der Linken und 25 Prozent der AfD-ler. Dass sich das Grundgesetz „sehr gut bewährt“ habe, befanden 30 Prozent aller und 22 Prozent der Linken-Anhänger – dreimal so viele wie AfD-ler (7 Prozent). Zu beachten ist auch, dass die AfD innenpolitisch weit mächtiger ist und international mächtigere Verbündete hat, von Trump-Berater Elon Musk bis zum russischen Präsidenten Putin. Staatspolitisch gesehen ist sie heute die größere Gefahr. Nicht von ungefähr warnen beide große Kirchen eindringlich vor ihr. In der katholischen Bischofskonferenz stimmten auch die konservativsten Bischöfe der Unvereinbarkeitserklärung vom Februar 2024 zu. Eine Aufgabe der „Brandmauer“ würde zu einer Spaltung der C-Parteien führen und zu ihrem Ende als stärkster politischer Kraft.
Und das BSW?
Mit der Partei der Russland-affinen, gelernten Stalinistin Sahra Wagenknecht haben sich die SPD in Brandenburg und die CDU in Thüringen notgedrungen eingelassen, um das größere Übel AfD zu vermeiden. Vielleicht bereut mancher in der Union noch die „Ausschließeritis“ gegenüber den Grünen und der relativ moderaten Ramelow-Linken, mit der man in Thüringen nun zusätzlich kooperieren muss. Sachsens CDU steht nun mit einer Minderheitsregierung da, aus der sich toxische Abhängigkeiten entwickeln können.
Über die sehr junge „Querfront“-Partei BSW mit ihrer Mischung aus wirtschafts- und sozialpolitisch linken, in der Migrations-, Minderheiten- und Kulturpolitik rechten Positionen lässt sich noch nicht abschließend urteilen. Sie ist zwar als Kaderpartei um eine höchst problematische Person mit gestörtem Verhältnis zu wehrhafter Freiheit gegenüber Putins Imperialismus organisiert, zugleich aber noch ein „gäriger Haufen“ (Alexander Gauland über die frühe AfD): Schon gibt es Streit, Parteiausschlussverfahren, sinkende Umfragewerte.
Viel hängt davon ab, ob sich moderate Landesvorsitzende doch „Beinfreiheit“ erstreiten können wie Katja Wolf in Erfurt. Als Koalitionspartner ist das BSW, das bundespolitisch vor allem andere anprangert und Wohltaten für die breite Masse verspricht, vorerst nur auf Landesebene ein „Notnagel“.
Wer gegenüber dem massenmörderischen Putin-Regime nicht klar abwehrbereit und solidarisch mit dessen Opfern ist, der kann aus demokratischer und christlicher Sicht kein akzeptabler Gestaltungspartner sein. Der Zentralwert des Grundgesetzes wie des Christentums ist die Freiheit. Nicht eine beliebige, sondern eine empathische und verantwortungsbewusste Freiheit. Wer zu solcher Freiheit berufen ist (Gal 5,13), der wird Totalitarismus, Verrohung, Sozialdarwinismus, Imperialismus und völkischem Nationalismus jederzeit entgegentreten. Und er wird in der Politik durch Koalitions- und Kompromissbereitschaft unter Demokraten dafür sorgen, dass er erst gar nicht in die Verlegenheit kommt, Bündnisse einzugehen mit den historisch belasteten Radikalen, mit den Fanatikern, Brandstiftern und Menschenverächtern unserer Zeit.
Zur Person
Dr. Andreas Püttmann (Bonn) ist Politikwissenschaftler und Publizist. Der Katholik arbeitete als Referent für Begabtenförderung bei der Konrad-Adenauer-Stiftung und ist Mitglied der Christlichen Medieninitiative pro. Er veröffentlichte zahlreiche Bücher, zum Beispiel „Gesellschaft ohne Gott“ (2010) und kommentiert regelmäßig das politische Geschehen.