„Wenn Sie uns nur von hinten fotografieren, dürfen Sie die Bilder gerne veröffentlichen, aber nur dann. Alles andere kann lebensgefährlich für uns werden.“
Die beiden Männer im Anzug und die Frau mit dem Kopftuch stehen vor einem großen Glasfenster im Paul-Löbe-Haus und schauen auf den Reichstag. Sie kommen aus dem Jemen. Alleine schon der Umstand, dass sie dieser Einladung in den Deutschen Bundestag gefolgt sind, kann gefährlich für sie werden. Ihre Identität bleibt geheim.
Es sind eine Ärztin, ein Arzt und ein Pastor. Sie berichteten von der vergessenen Katastrophe in ihrem Land: Bürgerkrieg mit Hunger und Cholera-Epidemie, täglichem Raketenbeschuss aus Saudi-Arabien – und für die Christen, die ihren Glauben nicht offen leben können, Bespitzelung und Verfolgung. Die junge Frau hat nur ein Auge, das andere verlor sie bei einem Attentat.
Die Begegnung im Bundestag war im Jahr 2019, drei Jahre nach dem Ausbruch des Bürgerkriegs im Jemen. Damals arbeitete ich als Politikbeauftragter für die Evangelische Allianz, gemeinsam mit der HMK Schweiz hatten wir die Gäste aus dem Jemen eingeladen, um vor Menschenrechtspolitikern ihre Lage zu schildern. E gab kaum Informationen über das Land, westliche Presse war nicht zugelassen. Für mich war es die erste direkte Begegnung mit Menschen, die im Jemen leben.
Heute ist das Land in aller Munde. Die Raketen, die die Huthi Miliz vom Jemen aus auf Israel schießt, schaffen es in die Schlagzeilen. Die humanitäre Katastrophe und das Elend der Bevölkerung dagegen nicht.
Laut Angaben der Vereinten Nationen gibt es derzeit 4,5 Millionen Binnenflüchtlinge. Mehr als die Hälfte der 30,5 Millionen Menschen benötigen humanitäre Unterstützung. Jedes zweite Kind unter fünf Jahren leidet an akuter Unterernährung. Nahrung, Wasser, medizinische Grundversorgung – es mangelt den Menschen an allem.
Innerhalb dieser humanitären Katastrophe spielt sich weitgehend unbemerkt eine weitere ab: die Verfolgung von Christen. Gemäß der Verfassung ist der Islam im Jemen die offizielle Staatsreligion, und somit gilt die Scharia als Rechtsgrundlage. Andere Religionen werden pro forma geduldet, jede Missionstätigkeit ist aber verboten, die Konversion weg vom Islam kann empfindliche Strafen nach sich ziehen. Neben den Behörden geht die Gefahr vor allem von den Großfamilien und den Stammesältesten aus. Auch islamistische Gruppen wie der Islamische Staat und Al-Qaida sind im Land präsent. Die Besucher im Bundestag erzählen von ihrem Pastor, der auf offener Straße erschossen wurde. Eine Strafverfolgung gab es nicht. Andere Berichte von Menschenrechtler führen an, dass Konvertiten körperliche und seelische Misshandlungen erfahren, verhaftet und vertrieben werden
Bekehrung zum Christentum trotz enormer Gefahr
Viele Jemeniten wenden sich enttäuscht von der Staatsreligion Islam ab, weil sie täglich in den Krieg zwischen den muslimischen Gruppen hineingezogen sind. Durch das Internet erfahren Menschen von den Gräueltaten extremistischer Gruppen. Ihre Abwendung führt in der Regel zunächst zu einem heimlichen Atheismus.
Aber auch immer mehr Menschen konvertieren trotz des enormen Risikos zum Christentum. Schätzungen gehen von mehr als 10.000 jemenitischen Konvertiten aus. Die Attraktivität der Christen hat viel mit ihrer Glaubwürdigkeit zu tun. Um Nothilfe zu leisten, gründen sie NGOs. Die Christen treffen sich in Hausgemeinden im Untergrund. Zwar gibt es noch vier Kirchengebäude im Land, doch die sind ausschließlich für ausländische Christen vorgesehen. Die Organisation der Hausgemeinden erfolgt über Social Media, aus Sicherheitsgründen nur mit Codewörtern. Trotz aller Gefahren und Vorsichtsmaßnahmen: Die Christen im Jemen leben ihren Glauben in Wort und Tat.
Doch nicht nur Christen sind gefährdet. Wie riskant es sein kann, für eine, christliche NGO zu arbeiten, hat Nabil erlebt. Der Leiter eines humanitären Projektes wurde verhaftet und verhört. Ihm wurde vorgeworfen, ein heimlicher Christ zu sein. Tatsächlich ist er Muslim, doch Jesus Christus motiviert ihn:
„Eines der Dinge, die ich am Christentum mag, sind die Sätze von Jesus, der sich um die Armen gekümmert hat. Ich habe nach Gemeinsamkeiten zwischen dem Islam und dem Christentum gesucht. Ich glaube, dass alle Menschen auf dieser Welt zusammenleben sollten, um diese Erde aufzubauen und Frieden für alle zu schaffen.“
„Betet für uns“
Nabil flieht mit seiner schwangeren Frau und ihrem Kind nach Jordanien. Dort kann er sicher leben und koordiniert „remote“ humanitäre Hilfen und Entwicklungsprojekte – sie sind heute nötiger denn je: Die Huthi geben das Geld für Waffen aus, während die Bevölkerung hungert, da kann die internationale Gemeinschaft nicht wegsehen, und darf nicht die Falschen bestrafen.
Die Besucher aus dem Bundestag kehren zurück in ihre Heimat, in den Bürgerkrieg, in eine ungewisse Zukunft. „Vergesst uns nicht“, bitten sie bei ihrem Abschied, „und betet für uns.“
Sich aus Sicherheitsgründen für ein Foto abzuwenden, ist das eine. Der Not weiter in die Augen zu schauen, und zu helfen, das andere. Bewegend, wie die Geschwister im Jemen das tun, und nicht minder bewegend, wie ein menschenfreundlicher Muslim ihnen dabei hilft.
Zur Person
Uwe Heimowski ist Leiter der christlich-humanitären Hilfsorganisation „Tearfund“ und Mitglied des Vorstandes der Christlichen Medieninitiative pro, die auch das Christliche Medienmagazin PRO herausgibt. An dieser Stelle schreibt er einmal im Monat darüber, was er mit Menschen aus aller Welt erlebt.
Von: Uwe Heimowski