In Indien haben am 11. April die Parlamentswahlen begonnen. In der größten Demokratie der Welt sind mehr als 800 Millionen Wahlberechtige aufgerufen, bis zum 19. Mai in einem der rund eine Million Wahllokale ihre Stimme abzugeben. Als Favorit gilt der Premierminister der hindu-nationalistischen Regierungspartei BJP, Narendra Modi. Der Hindu-Nationalismus hat die Ausrichtung Indiens nach hinduistischen Regeln zum Ziel. Als größter Konkurrent um das Amt des Premierministers in dem Land gilt der Enkel von Indira Gandhi, Rahul Gandhi, der für die Kongresspartei in dem Land antritt.
Die Tageszeitung Die Welt berichtet am Donnerstag unter dem Titel „Muslime sind doch auch Inder“ über zunehmende Spannungen zwischen Hindus und Muslimen. In dem Land lebt weltweit die drittgrößte muslimische Bevölkerung. Verantwortlich für die Spannungen ist nach Ansicht des Autors Padma Rao vor allem die national-hinduistische BJP. Bei Ausschreitungen gegen Muslime geht es dem Bericht zufolge oft um Kühe. Die sind den Hindus heilig. „Dass Muslime sie angeblich töten oder essen wollen, ist ein häufiger Vorwand für Übergriffe“, schreibt Rao. Dass in dem Land auch Christen und andere Minderheiten massiv unter Druck durch die national-hinduistische Bewegung geraten, berichtet die Welt nicht.
Davon weiß Manfred Müller, Missonsleiter des christlichen Hilfswerkes Hilfsaktion Märtyrerkirche (HMK), zu berichten. Die HMK ist in Indien über Partnerorganisationen dort aktiv, wo Christen besonders bedrängt sind und verfolgt werden. Etwa in dem Bundesstaat Odisha (früher Orissa). „In verschiedenen Bundesstaaten Indiens gibt es Antibekehrungsgesetze“, erklärt Müller im Gespräch. Es sei dort verboten, vom Hinduismus zum Christentum oder dem Islam überzutreten. Dahinter stehe die von radikalen Hindunationalisten propagierte Hindutva-Ideologie (ein Volk – eine Nation – eine Kultur), die nach seiner Einschätzung von einflussreichen Eliten in Indien sehr stark instrumentalisiert werde.
Christentum soll in Indien bis 2021 „liquidiert“ werden
Der Leiter einer stark wachsenden Kirche Indiens (Name kann aus Sicherheitsgründen nicht genannt werden) und Partner der HMK in dem Land teilt die Einschätzung Müllers. „Die BJP versucht verzweifelt, die Macht unter Modi zu behalten“, erklärte er auf Anfrage von pro. Die Kongresspartei, die von Rahul Gandhi, dem Urenkel des ersten indischen Premierministers Jawaharlal Nehru, angeführt wird, sei wiedererstarkt und unternehme sämtliche Anstrengungen, um an die Macht zu kommen. Seine Kongresspartei strebe eine „säkularisierte, den Armen zugewandte Regierung“ an. „Erst kürzlich konnte die Kongresspartei in Nordindien, dem Hindu-Kernland, einen Erdrutschsieg erringen“, erklärt er. Viele der starken regionalen Parteien scheinen die Modi-Regierung nicht zu bevorzugen.
Der Kirchenleiter sagt, dass „in den vergangenen fünf Jahren des Modi-Regimes die Verfolgung von Christen“ zugenommen habe. Auch die Spannungen mit anderen Minderheiten hätten sich verstärkt. „Einige rechte Führer haben öffentlich ihr Bestreben zum Ausdruck gebracht, das Christentum in Indien bis 2021 zu liquidieren„, erklärt er. „Lynchmorde des Mobs an Menschen, die Kühe aßen, die Vergewaltigung von Frauen, Tempelkonflikte, erbitterte Feindseligkeit mit Nachbarn und die Bemühungen, eine hinduistische Verfassung neu zu schreiben, haben das weltliche Gesicht Indiens verzerrt“, sagt er. Zudem stehe Indien vor einer beispiellosen Wirtschaftskrise. „Beten Sie, dass die Regierung Indiens nicht in die Hände von faschistischen Gruppen und religiösen Fundamentalisten gelangt“, sagt der Kirchenleiter. „Indien braucht Frieden und sozio-ökonomische Entwicklung.“
Politische und wirtschaftliche Interessen bedienen sich uralter Traditionen
Die national-hinduistische Ideologie Hindutva beruft sich nach Müllers Angaben sehr stark auf einen „gemeinsamen heiligen Boden“, Indien, und eine gemeinsame Abstammung und Kultur, den Hinduismus. „Ein Volk, eine Nation, ein Glaube. Das bedeutet“, erklärt Müller im Gespräch mit pro, „auf diesem heiligen Boden Indien dürften nach Vorstellung der Nationalisten nur Hindus leben. Das Land darf nicht ‚beschmutzt‘ werden von Muslimen und Christen. Darin liegt die Ursache für die Verfolgung und Unterdrückung anderer Religionen und Weltanschauungen.“
Christliche Nächstenliebe wird als Vorwand gesehen
Müller findet jedoch nicht, dass der Hindu-Nationalismus aus der Geschichte des Hinduismus selbst und seinen uralten Traditionen hervorgegangen ist. „Ich denke, dass politische und wirtschaftliche Interessen sich uralter Traditionen bedienen und sich so in einer Art und Weise zuspitzen, dass sie geneigt sind, große Massen zu beeinflussen.“ Christen erinnerten in dem Land zudem an die koloniale Vergangenheit. Sie würden als störendes Überbleibsel dieser Zeit empfunden. „Es ist in Indien bereits zu pogromartigen Übergriffen gegen Christen gekommen, bei denen ganze Dörfer niedergebrannt worden sind“, sagt Müller. Der Vorwurf laute, dass Christen etwa mit dem Bau von Hospitälern und Schulen versuchten, die Bekehrung von Hindus zu „erkaufen“.
„Christen und Muslime in dem Land sind beunruhigt. Sie fürchten neue Unruhen“, sagt Müller. Die Regierung sei angeschlagen und versuche nun auch liberalere Kreise als nur Hinduisten zu mobilisieren. Die BJP präsentiere sich zunehmend als Partei mit Wirtschaftskompetenz. „Das mag funktionieren, im Kern ist aber diese Hindutva-Ideologie diskriminierend gegenüber allen anderen Gruppen. Die Christen blicken sorgenvoll auf die Wahlen.“
Die HMK hilft verfolgten Christen, die wegen ihres Glaubens diskriminiert, gefoltert und möglicherweise sogar getötet werden. Die Hilfe erfolgt durch die Unterstützung durch Soforthilfe und medizinische Projekte, aber auch durch Wiederaufbauhilfen und Hilfen zur Selbsthilfe.
Die HMK ist seit 50 Jahren als Verein aktiv und gilt als das einzige Missionswerk, dass von der verfolgten Gemeinde selber gegründet wurde. Die Arbeit geht zurück auf eine Initiative von Richard Wurmbrand. Der in Rumänien inhaftierte Christ löste nach seiner Haftentlassung das Versprechen ein, als Überlebender „die Stimme der Märtyrer“ für die in Rumänien verfolgten Christen zu sein.
Von: Norbert Schäfer