Geld allein macht ein Volk offenbar nicht glücklich. "Statt sich über den wachsenden Wohlstand zu freuen, prangern die Chinesen immer heftiger Materialismus, Egoismus und die allgegenwärtige Korruption staatlicher Funktionäre an", stellt "Capital" in dem sechsseitigen Beitrag fest. Immer wieder erschütterten das Land Vorfälle, die China als ein selbstsüchtiges, mitleidsloses Volk erscheinen ließe.
Der Grund für dieses Wertevakuum? Für Intellektuelle sei der Mangel an Moral Ausdruck einer Orientierungslosigkeit, schreibt das Wirtschaftsmagazin. "2.000 Jahre lang waren die Chinesen Atheisten, als Spiritus Rector diente Konfuzius." Dann sei Mao Tse-tung gekommen und habe Konfuzius‘ Hinterlassenschaft als Hindernis auf dem Weg zu einer modernen, egalitären Gesellschaft verdammt. "Als die Sowjetunion zusammenbrach, fragten sich die Leute: Wenn der Konfuzianismus schlecht ist und der Marxismus nicht funktioniert hat, woran sollen wir dann glauben?", zitiert "Capital" den Sozialwissenschaftler Paul Liu. Eine ganze Zeit lang habe die Wirtschaftsform "Sozialismus mit chinesischen Merkmalen" funktioniert, solange es lediglich darum gegangen sei, die Leute satt zu bekommen. Seit zumindest die Mittschicht einen gewissen Wohlstand erreicht habe, sei dies vorbei. "Wenn das System nichts anbietet, was den spirituellen Hunger sättigt, suchen es sich die Leute selbst", resümiert Liu in dem Beitrag.
Christen erscheinen der Partei als Bedrohung
"Viele Chinesen werden im Christentum fündig", schreibt "Capital" und weist darauf hin, dass es mit der Gründung der Volksrepublik im Jahr 1949 rund eine Million Christen im Land gab. Heute seien es Schätzungen zufolge bis zu 100 Millionen, von denen sich die meisten privat in Wohnungen, Restaurants oder Hotels träfen. An die 3.000 solcher Hauskirchen gebe es allein in Peking. Diese Organisationen seien illegal, würden aber nicht strafrechtlich verfolgt, solange sie sich ruhig verhielten.
Viele Intellektuelle, die selbst nicht gläubig sind, begrüßten die Verbreitung des Christentums, zitiert "Capital" einen Juraprofessor, der selbst eine kleine Hauskirche leitet. Allerdings müsse eine solche Organisation, deren Mitglieder nicht in die Partei eintreten, weil die noch immer das alleinige Bekenntnis zum Marxismus fordert, der Kommunistischen Partei zwangsläufig als Bedrohung erscheinen, stellt das Wirtschaftsmagazin fest. Zumal sie sich immer offener zur Schau stelle. Das wachsende Selbstbewusstsein der Christen und ihre gut funktionierenden Verbindungen untereinander machten der Regierung Angst. So ein Netzwerk ließe sich schließlich auch für politische Zwecke nutzen.
Trotzdem halten sich die Sicherheitskräfte gegenüber den Christen zurück. Der Beitrag erklärt, warum sie sich ein allzu brutales Vorgehen nicht leisten können: "Unter den Christen sind viele Anwälte, Ärzte und Geschäftsleute, oft mit besten Beziehungen ins Ausland. Und hinter ihnen steht die internationale Kirche." Irgendwann knickt die Partei ein und legalisiert die Hauskirchen, schreibt "Capital" und beruft sich dabei auf den Juraprofessor. (pro)