Chef der US-Allianz: „Viele Evangelikale haben einen tiefen Gewissenskonflikt“

Walter Kim ist Präsident der National Association of Evangelicals (NAE). Im Interview warnt er vor christlichem Nationalismus, wirbt für eine Rückbesinnung auf biblische Werte – und erklärt, warum selbst Muslime sich „evangelikal“ nennen.
Von Nicolai Franz

PRO: Welche Themen sind für die National Association of Evangelicals (NAE) im Präsidentschaftswahlkampf am wichtigsten?

Walter Kim: Die NAE hat sich schon immer um ein breites Spektrum an Themen gekümmert. In unserem Dokument „For the Health of the Nation“ (zum Wohle der Nation) rufen wir Evangelikale zu gesellschaftlichem Engagement auf. Darin bekennen wir uns auch zu Demut und Anstand als grundlegende Prinzipien hinsichtlich der Würde aller Menschen, weil sie in Gottes Bild geschaffen sind. Wir sehen acht politische Bereiche, in denen wir finden, dass Christen ihren Glauben einbringen sollten: zunächst den Einsatz für Religions- und Gewissensfreiheit – nicht nur für Christen, sondern auch für alle anderen. Den Lebensschutz – und zwar vom Anfang bis zum Ende des Lebens. Einsatz gegen Armut, für Menschenrechte, für die Bewahrung der Schöpfung, für Rassengerechtigkeit, für Frieden und die Stärkung der Familien. Manche Evangelikale beschränken sich allerdings auf ein oder zwei Themen.

Zum Beispiel Abtreibung.

Ja, oder Religionsfreiheit. Natürlich sind das wichtige biblische Werte, aber der Bibel geht es noch um so viel mehr. Für dieses ganze Spektrum will die NAE sich einsetzen.

Laut Umfragen stimmen 80 Prozent der weißen Evangelikalen für Donald Trump. Wie sieht es mit nicht-weißen Evangelikalen aus? Und welchen Anteil machen sie in der NAE aus?

Wir haben in der NAE eine ziemliche Diversität. Einige führende hispanische Netzwerke gehören dazu, auch die „Evangelikale Vereinigung amerikanischer Ureinwohner“ und das „Äthiopische Evangelikale Kirchennetzwerk“ gehört zur NAE. Innerhalb der vergangenen zehn Jahre haben wir eine der größten Transformationen der evangelikalen Demografie gesehen, als Migrantenkirchen zur evangelikalen Szene hinzugestoßen sind. Umfragen bilden diesen Wandel aber kaum ab. Ich bin koreanischer Amerikaner, also kein weißer Evangelikaler, aber ich teile evangelikale Glaubensüberzeugungen – und bin daher Teil dieses Wandels. Ja, 80 Prozent der weißen Evangelikalen unterstützen Donald Trump, aber es gibt auch eine große Bandbreite an afroamerikanischen Evangelikalen, die mit bis zu 80 Prozent Harris unterstützen, ebenso die Amerikaner mit asiatischen Wurzeln. Ich würde sogar sagen, dass es innerhalb der weißen Evangelikalen eine größere Varianz gibt, als die Umfragen zeigen: zum Beispiel, wenn man den Wohnort berücksichtigt oder die Häufigkeit des Gottesdienstbesuchs. Der Evangelikalismus ist teilweise leider auf politische Anliegen reduziert worden, nicht auf theologische. Zum Beispiel hat eine jüngst erschienen Studie von Soziologen und Politikwissenschaftlern herausgefunden, dass zehn Prozent der Muslime sich „Evangelikale“ nennen.

„Zehn Prozent der Muslime nennen sich ‚evangelikal‘.“

Wie bitte?

Das ist tatsächlich so, weil Muslime nach ihrem medial geprägten Verständnis von „evangelikal“ davon ausgegangen sind, dass es sich um einen politischen Begriff handelt. Es herrscht Verwirrung in unserem Land darüber, was evangelikal eigentlich bedeutet. Daher kann ein konservativer Muslim sagen: „Ok, ich bin wohl evangelikal, wenn ich gewisse konservative gesellschaftliche Werte vertrete.“

Zum Beispiel beim Thema gleichgeschlechtliche Ehe.

Ja. 

Umfrageinstitute sprechen von „weißen Evangelikalen“, aber nie von „schwarzen Evangelikalen“. Schwarze Baptisten und Pfingstler unterstützen zu 80 Prozent die demokratische Kandidatin. Warum werden sie nicht evangelikal genannt?

Aus geschichtlichen Gründen. Und die können wir nur verstehen, wenn wir uns die tiefe und schmerzhafte Geschichte der Sklaverei anschauen. Schwarze Kirchen waren ein Schutzraum, in dem die Menschen ihren Glauben gelebt haben, während sie von weißen Kirchen ausgeschlossen wurden – und von ihnen waren viele evangelikal. Es gab leider Zeiten in unserer Geschichte, in denen gerade weiße Evangelikale sich nicht um den Ruf nach Rassengerechtigkeit geschert haben. Ein Beispiel: In den 1950er Jahren hat die NAE in einer Resolution erklärt, dass der Einsatz für Rassengerechtigkeit ein biblischer Wert ist, zu dem sich Evangelikale verpflichten sollten. In den 1960er Jahren war dieser Überzeugung aber nicht die Regel. Manche engagierten sich zwar für Rassengerechtigkeit, viele blieben untätig, und manche haben ihren Rassismus leider beibehalten. Das hat zur Spaltung zwischen schwarzen und überwiegend weißen evangelikalen Kirchen beigetragen. Gerade in der letzten Dekade wurde aber deutlich, dass schwarze Kirchen zutiefst evangelikale Überzeugungen haben. Und in dieser Zeit des Beziehungswandels, den wir hoffentlich als NAE repräsentieren, hoffen wir, dass wir den Lauf der Geschichte ändern können.

„MAGA“, „Make America Great Again“, ist nicht nur das Motto von Donald Trump, sondern der Name einer ganzen Bewegung, die in Teilen als nationalistisch und rassistisch gesehen wird. Sehen Sie die MAGA-Bewegung als Bedrohung der amerikanischen Christenheit?

MAGA enthält definitiv Elemente des christlichen Nationalismus, auch wenn man nicht den Fehler machen sollte, die gesamte Bewegung mit einem einzigen Begriff zu belegen. Christlichen Nationalismus sehe ich allerdings sehr kritisch. Natürlich kann das Christentum zu einer lebendigen Demokratie viel beitragen. Aber die Vermischung von christlicher Lehre mit amerikanischer Identität untergräbt die frohe Botschaft von Jesus Christus, sie korrumpiert den Glauben. Es gibt nur einen Herrn und Retter. Es gibt nur ein Reich, dem Christen am Ende verpflichtet sein sollen. Diese Unterscheidung müssen wir klar aufrechterhalten.

National Association of Evangelicals (NAE)

Die National Association of Evangelicals (NAE) repräsentiert nach eigenen Angaben mehr als 40.000 evangelikale Kirchen, theologische Ausbildungsstätten und christliche Werke mit insgesamt mehreren Millionen Mitgliedern. Sie wurde 1942 gegründet.

Kompromittiert MAGA das Evangelium?

Teile des christlichen Nationalismus kompromittieren das Evangelium. Das Evangelium ist eine transformierende Kraft, die über dem Politischen steht, und christlicher Nationalismus reduziert sie auf eine politische Bewegung und eine einzige nationale Identität. Ich bin froh, dass sich die amerikanische Unabhängigkeitserklärung auf „gottgegebene“ Rechte bezieht. Aber das ist ein ziemlich kleiner gemeinsamer Nenner von dem, was der christliche Glaube anzubieten hat: Vergebung in Christus, radikale Lebensveränderungen, Einsatz gegen Ungerechtigkeiten wie der Sklaverei. Wenn die Kirche ihre Fähigkeit verliert, prophetisch gegen diese Ungerechtigkeiten zu sprechen, dann verliert sie ihre Berufung. Und das wäre zutiefst gefährlich für Christen.

Können Sie Christen verstehen, die ihre Probleme mit Donald Trump haben, aber sich wegen ihrer Haltung zum Lebensschutz auch nicht für Kamala Harris entscheiden können?

Das ist eine sehr wichtige Beobachtung. Viele Evangelikale haben einen tiefen Gewissenskonflikt. Das ist typisch für unsere gefallene Welt. Manche evangelikale Trump-Wähler sagen: Er ist natürlich kein perfekter Kandidat, und er hat Schwächen, aber er setzt sich für diese und jene Themen ein, die mir wichtig sind. Aber es gibt auch solche, die sagen: Wenn ich mir die wichtigsten Themen für die Gesellschaft anschaue, komme ich trotz erheblicher Differenzen mit Kamala Harris zu dem Entschluss, dass sie meine Stimme bekommen sollte. Die NAE wirbt für keinen Kandidaten. Wir wollen uns für das Gemeinwohl einsetzen, egal wer an der Macht ist. Aber uns sind bestimmte Anliegen wichtig, und damit konfrontieren wir sowohl die Republikaner als auch die Demokraten. Die Republikaner wollen wir in ihrer Haltung zur Bewahrung der Schöpfung und Migration ins Gewissen sprechen. Und der Demokratischen Partei in ihrer Haltung zum Lebensschutz. Genau das ist die Herausforderung, der wir uns in einer gefallenen Welt stellen müssen, wenn wir unseren Glauben leben wollen.

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