Auf den ersten Blick scheint die christlich-demokratische Identität der CDU im Entwurf für ein neues Grundsatzprogramm gerettet zu sein, jedenfalls abgesehen von der Schnapsidee, ihr eine Art Zweitidentität als „bürgerliche Partei“ zu verpassen – entweder weil man dem „C“ keine gesellschaftliche Anziehungskraft mehr zutraut, oder weil es auf dem Weg in eine wirtschaftsliberale Richtung mit restriktiverer Flüchtlingspolitik zu unbequem, potenziell sperrig wirken könnte.
Jedenfalls war der parteiinterne Widerstand gegen eine vom konservativen Historiker Andreas Rödder in Betracht gezogene Streichung oder Ergänzung des Parteinamens zu groß, sodass auf der Fassade der geistigen CDU-Architektur weiterhin das „C“ prangt, nun halt neben einem „B“. So weit, so überflüssig.
Die Christdemokraten bekennen sich weiterhin zum christlichen Menschenbild als ihrem „Kompass“, zur Verantwortung vor Gott, zu ihrer christlich-sozialen Wurzel und Parteiströmung, zu christlichen Feiertagen und Symbolen, zum Religionsunterricht als Pflichtfach sowie zur christlichen Prägung Deutschlands.
Erfreulicherweise wird die Lage verfolgter Christen als „besonderes Anliegen“ ins Programm aufgenommen. Die CDU sieht „Kirchen und Gemeinden“ als „wichtige Partner bei der Gestaltung unseres Gemeinwesens“ und „gesellschaftspolitische Stabilitätsanker, die Menschen Orientierung geben, Sinn stiften und Seelsorge betreiben“ und attestieren den Kirchen am Beispiel von Krankenhäusern, Pflegediensten oder Kindertagesstätten „eine wichtige Rolle in der öffentlichen Daseinsvorsorge“.
Beachtlich und im säkularen Staat durchaus mutig ist die These: „Die Kultur unserer Verfassung beruht auf gemeinsamen Wertüberzeugungen christlichen Ursprungs“, ergänzt um die Anerkennung der „Kraft von Religionen“ und eine Aneignung des berühmten „Böckenförde-Diktums“, wonach „unser freiheitlicher Staat von Voraussetzungen lebt, die er selbst nicht garantieren kann“.
Interview mit Paul Kirchhof über Ernst-Wolfgang Böckenförde
» „Kirchen sind unverzichtbar für demokratische Grundordnung“
Mit all dem kann man die Suchfunktion im PDF aber nicht überlisten. Und da zeigt sich im Vergleich zum bisherigen Programm von 2007 eine klare Rücknahme christlicher Zentralbegriffe: „Gott“ kam elfmal vor, nun dreimal, „christlich“ reduzierte sich von 45 auf 21-mal (fast ausschließlich als Namensteil der Partei oder Attribut zu „Menschenbild“), „Kirchen“ von elf auf vier, „Nächstenliebe“ von zwei auf eins. Ganz verschwunden sind die bislang zwei Bezugnahmen auf die christliche Sozialethik, das Ja zur Kirchensteuer und die Würdigung kirchlicher Dienste in der Entwicklungszusammenarbeit.
Lebensschutz ohne christliche Bezüge
Überhaupt erschöpfen sich christliche Bezüge nahezu ausschließlich in identitätspolitischen Charakterisierungen der Partei und der Landeskultur, während Positionierungen in einzelnen Politikbereichen fast nie vom „C“ her transparent gemacht und begründet werden – nicht mal beim Lebensschutz, wo es doch besonders naheliegend wäre und man dem Thema „überragende Bedeutung“ zuspricht.
Stattdessen bezieht sich die Argumentation auf „die geltende Rechtslage zum Schwangerschaftsabbruch“, die einen „mühsam gefundenen gesellschaftlichen Kompromiss“ abbilde; „zu dieser Rechtslage stehen wir“, verbunden mit der Forderung nach „guten Hilfsangeboten“ und einem „entsprechenden gesellschaftlichen Klima. Mit der hohen Zahl an Abtreibungen finden wir uns nicht ab“. Auch bei alten oder schwerkranken Menschen räume man „der unantastbaren Würde“ und „der Unverfügbarkeit des menschlichen Lebens den höchsten Stellenwert ein“.
Einen anderen Eindruck vermittelte allerdings die CDU-Mitgliederumfrage vom Frühjahr 2023: Auf die Frage: „Wozu verpflichtet das ‚C‘ im Namen der Partei? Welche politischen Ziele und Maximen halten Sie mit Blick auf das ‚C‘ für besonders wichtig, welche für auch noch wichtig, und welche für weniger wichtig?“ wählten die Mitglieder zwar am häufigsten als „besonders wichtig“ die Antworten:
- „Freiheit“ (82,5 Prozent)
- „Die Würde des Menschen schützen“ (80,7 Prozent)
- „Respekt, Anstand und Fairness“ (80,3 Prozent)
- „Einsatz für den Frieden“ (71,6 Prozent) und
- „Familien stärken“ (71,4 Prozent)
Doch das urchristliche Anliegen „Schutz des Lebens“ (64,4 Prozent) fand keine Zweidrittelmehrheit mehr, und am wenigsten Nachdruck gaben die Mitglieder dem „Respekt vor religiösen Überzeugungen“ (32,1 Prozent), der „Unterstützung Bedürftiger“ (38,9 Prozent) und dem „Engagement gegen Diskriminierung“ (39,9 Prozent). Eine Kirche, die „an die Ränder geht“ (Papst Franziskus), spiegelt sich in den Prioritäten der CDU-Basis wenig wider.
Aufhorchen ließ auch der Politbarometer-Befund vom Dezember 2022, dass nicht einmal die Hälfte der Unions-Anhänger (47 Prozent) der Ukraine durch die Lieferung moderner Kampfpanzer helfen wollten – weniger als Anhänger der Grünen (70 Prozent), der FDP (56 Prozent) und der SPD (55 Prozent).
Was würde CDU-Gründergeneration dazu sagen?
Laut Mitte-Studie 2023 landen Unions-Anhänger in den Kategorien Nationalchauvinismus (24 Prozent) und Fremdenfeindlichkeit (20 Prozent) jeweils auf Rang 2 hinter der AfD-Klientel. Dass „Deutschland eine besondere Verpflichtung gegenüber Israel hat“, bejahten laut Forsa Ende Oktober nur etwa die Hälfte der CDU-Anhänger (52 Prozent), weit weniger als jene der Grünen (73 Prozent) und der SPD (69 Prozent), nur von FDP (25 Prozent) und AfD (21 Prozent) unterboten.
Was hierzu wohl die CDU-Gründergeneration sagen würden? Gehen der Unions-Klientel Empathie, Hilfsbereitschaft, Widerstandswille gegen Totalitarismus und historisch-moralisches Verantwortungsgefühl verloren? Wachsen solche Haltungen auch vermehrt in die Funktionärsschicht der Partei hinein? Dann drohte trotz aller programmatischen Berufung der Partei auf christliche Identität und Kultur eine Abendlanddämmerung, in der am Adenauer-Haus in Berlin bald doch kein „C“ mehr leuchten könnte.
Zur Person
Dr. Andreas Püttmann (Bonn) ist Politikwissenschaftler und Publizist. Der Katholik arbeitete als Referent für Begabtenförderung bei der Konrad-Adenauer-Stiftung und ist Mitglied der Christlichen Medieninitiative pro. Er veröffentlichte zahlreiche Bücher, zum Beispiel „Gesellschaft ohne Gott“ (2010) und kommentiert regelmäßig das politische Geschehen.
Von: Andreas Püttmann