In der dreischiffigen gotischen Lorenzkirche, südlich der Pegnitz in der historischen Nürnberger Altstadt gelegen, ist meistens nicht viel los. Heute ist alles anders. Eine freundliche junge Frau steht am Südportal. Sie hält ein Schild hoch: „Kirche überfüllt“, steht da.
Es ist Kirchentag – der erste richtige wieder seit Corona. Etliches ist anders geworden. Die Offiziellen zählen bislang erwartungsgemäß weniger Besucher als in früheren Jahren. Doch es sind immer noch Zehntausende. Viele tragen die grün-gelben Halstücher. Und wer hier ist, kann erleben: Der Kirchentag, er lebt!
„Jetzt ist die Zeit“ – so lautet die Losung aus dem Markusevangelium (1,15). Sie erinnert den Menschen daran, immer wieder umzukehren, und sie zeigt zugleich die ermutigende Perspektive: „Gottes Reich ist nahe“ – auch in schwierigen und bösen Zeiten.
Schon im Vorfeld war klar: Dieser Kirchentag 2023 will klimafreundlich sein. Und digital natürlich auch. Das gedruckte Programmbuch ist passé. Stattdessen muss – und darf – sich die mehrheitlich nicht-jugendliche Großgemeinde, die aus allen Himmelsrichtungen angereist ist, von der Kirchentags-App navigieren lassen: durch 2.000 Programmangebote an Hunderten von Veranstaltungsorten. Und das klappt spitzenmäßig, finden viele.
Die netten Leute vom Kirchentags-Service nahe dem Königstorturm sagen allerdings, dass es auch Ärger gab: Wegen Überlastung konnten manchmal stundenlang bezahlte Teilnehmer- und ÖPNV-Tickets nicht rechtzeitig in die App geladen werden.
Gesang wie im Himmel
Auf den Hauptpodien geht es um Klima, um Krieg und Frieden, um soziale und globale Gerechtigkeit, um Missbrauch in der Kirche, Regenbogenthemen und Geschlechtergerechtigkeit. Söder, Schwesig, Habeck oder der TV-Comedian und Arzt Eckart von Hirschhausen sprechen über ihren persönlichen Glauben in politischen Stresssituationen, über Krankheitsbewältigung oder das leidige Heizungsgesetz.
Es gibt Diskussionsforen über vegane Ernährung, eine fröhliche, kreative Kinderkirche und Trauerbegleitung. Der Soziologe Detlef Pollack warnt vor einer „handfesten Glaubenskrise“ in unserem Land.
Doch wer sich einfach nur über den Kirchentag treiben lässt, kann hier mehr als nur am Rande und oft ganz spontan jede Menge geistliche, spirituelle, faszinierende Glaubenserfahrungen machen – gemeinsam mit anderen verbindende Gemeinschaft erleben, Stille, Gebet, Musik und Andacht.
Mehr als 1.200 Menschen finden im riesigen Kirchenschiff von St. Lorenz Platz. Doch schon eine Dreiviertelstunde, bevor der Windsbacher Knabenchor seine Motetten anstimmt, gibt es keine Chance mehr, einen der begehrten Plätze abzubekommen. Ganz vorn kommt es fast zu Handgreiflichkeiten.
Doch dann erklingen Bach und Mendelssohn Bartholdy. Ein fast sphärischer Knabensopran, dazu junger Alt, Tenor und Bass entrücken die Zuhörer in bekannte und zugleich einmalige Klangwelten. „Jesu, meine Freude“ – manch einer ahnt, dass auch die Engel im Himmel das kaum besser hinkriegen.
Dann öffnet sich das Haupttor, die Menschen strömen zurück ins Tageslicht. Und augenblicklich tritt man in eine ganz andere, aber ebenso viele Menschen verbindende, traditionelle protestantische Klangwelt: 75 Bläser zweier befreundeter Posaunenchöre aus der Pfalz und aus Anhalt stimmen Paul Gerhardts „Du meine Seele singe“ an oder Tersteegens „Gott ist gegenwärtig“. Mehrere Hundert Menschen singen spontan mit.
Weiter links sitzt eine Frau mit sonnengebräuntem Gesicht in Woodstock-Klamotten auf ihrem Campingstuhl. Sie hat Strickzeug ausgepackt und arbeitet konzentriert an Pippi-Langstrumpf-Strümpfen. Nebenan duftet es nach Nürnberger Würstchen.
Klimakrise trifft auf Humor
Die Kirchentags-App hat inzwischen mit einer Popup-Meldung rechtzeitig vor starken Regenschauern mit Gewittern gewarnt. Richtige Kirchentags-Profis sind natürlich auf alles vorbereitet. Einige machen deshalb einfach weiter und laufen als Mülltüten verkleidet durch die Innenstadt. Denen scheint es völlig wurscht zu sein, dass die meisten jetzt lieber in Halle 6 im Messezentrum sind, wo Umwelt-Aktivisten auf dem Markt der Möglichkeiten völlig zu Recht vor den Gefahren von Plastikmüll in den Weltmeeren warnen.
Rund 300 Kirchentagsbesucher möchten sich mit solch ernsten Themen lieber in heiterer Stimmung befassen: Mit der U-Bahn fahren sie zur „Comödie“ nach Fürth. „Hallo Greta, wir bleiben, wie wir sind“, heißt die kabarettistische Bußpredigt, mit der der launige Comedian Otmar Traber aus dem badischen Reichenau sein Publikum empfängt.
Kalauernd, geistreich, nachdenklich, frech und bissig nimmt er nicht nur die verschlafene, manchmal machtversessene Kirche, Trump und vor allem die unvermeidliche weiße Boomer-Generation aufs Korn.
Auch die im Saal gut vertretenen Jungen kriegen ihr Fett ab: Auch sie seien „völlig naiv in diese digitale Welt hineingestolpert“: Mit Youtube-Videos, Millionen Instagram-Bildern, Streamingdiensten, Kaffeekonsum aus der Kapselmaschine oder Amazon-Paketservice würde ihr CO2-Fußabdruck eine rekordverdächtige Größenordnung annehmen.
Großes Interesse an jüdisch-christlicher Bibelauslegung
Traditionelles Highlight für Tausende bleiben die Bibelarbeiten – jeden Morgen zu einer für diesen Tag ausgewählten Bibelstelle, die in einer Beziehung zur Kirchentagslosung steht. Vertreterinnen und Vertreter aus Religion, Politik, Kultur- und Wirtschaftsleben bieten diesmal an bis zu 19 Orten gleichzeitig Schriftauslegungen in verschiedenen Formaten an.
Bei diesen geistlichen Angeboten ist der Andrang manchmal so groß, dass die Kirchentags-App mit einer roten Ampel schon vorab anzeigt: leider ausgebucht. Auch die jüdisch-christliche Dialog-Bibelarbeit der in Tel Aviv geborenen Juristin und Rabbinerin Jasmin Andriani aus Göttingen und der Greifswalder Antisemitismus-Forscherin und Theologin Karoline Ritter im Kongresszentrum ist rappelvoll. Mehr als knapp 300 Menschen passen einfach nicht in den Saal.
Die beiden jungen Theologinnen variieren, deuten und diskutieren die Josefs-Geschichte. Josef, der zweitjüngste von zwölf Brüdern, ist der Liebling des Vaters Jakob, wird von seinen Brüdern jedoch fast in den Tod verstoßen. Er wird zum Opfer und später mit Gottes Hilfe Vize-Pharao von Ägypten – und zum Retter seiner Brüder.
Die jungen Theologinnen sehen hier auch Botschaften in unsere Zeit: „Zum Beispiel, dass wir bereit sind, unseren Reichtum zu teilen.“ Und sie diskutieren Familienrollen. Schließlich gehe es auch in unseren Familien darum, dass Eltern „fair mit ihren Kindern umgehen“. Aber ebenso sollten wir heute mit der Jakob-Familie barmherzig sein, sagt Karoline Ritter zum Abschluss lachend: „Schließlich gab es damals noch nicht so viele Erziehungsratgeber.“