PRO: Beim Amtseid im Dezember 2021 sagten Sie den Gotteszusatz „So wahr mir Gott helfe…“: Was bedeutet das für Sie?
Hubertus Heil: Die Aufgabe, die man als Minister übernimmt, erfordert Beistand. Ich bin nicht besonders fromm, aber von christlichen Werten geprägt, seit ich ein kleines Kind war. In diesem Wertesystem versuche ich, Politik zu machen.
Sie sind nicht besonders fromm? Woran zeigt sich das?
Ich schaffe es zum Beispiel nicht jeden Sonntag in den Gottesdienst. Das halte ich aber offen gesagt auch gar nicht für unbedingt notwendig. Jeder muss seinen Glauben so leben, wie er möchte, und ich will es vor allem der Welt zugeneigt und tolerant tun.
Sie haben mal gesagt, Ihr Glaube helfe Ihnen bei schwierigen Entscheidungen im Bundestag. Wie muss man sich das vorstellen: Nimmt der Minister dann die Bibel her und liest vor wichtigen Entscheidungen nach? Beten Sie? Machen Sie Stille Zeit?
Ich bete – auf meine Art. Und ich schaue in die Losungen. Aber ich lebe meinen Glauben nicht nur in Krisensituationen, er ist vielmehr eine Konstante in meinem Leben. Vor allem meine Mutter hat mich in dieser Hinsicht sehr stark geprägt. Sie war alleinerziehend, hat zwei Jungs durchgebracht und war zutiefst evangelisch. Sie hat uns schon als kleine Kinder mit zu Kirchentagen genommen.
Sie sitzen heute im Präsidium des Deutschen Evangelischen Kirchentags, offenbar war die Prägung nachhaltig.
Offenbar war sie das. Es gab aber auch weitere Einflüsse. Ich hatte als junger Mensch zum Beispiel einen Deutschlehrer, der mich beeindruckt hat, weil er offen über sein Christsein sprach. Dem entgegen stand ausgerechnet ein Religionslehrer, der meine Zweifel an Glaubensfragen, die ich offen geäußert habe, allzu leicht abgetan hat.
Was waren das für Zweifel?
Ich habe mich gefragt, ob es einen Gott geben kann, der so viel Ungerechtigkeit und Leid zulässt. Martin Luther gibt Antworten auf diese Frage, das weiß ich heute: Dass es nämlich auch eine menschliche Verantwortung für diese Welt gibt. Religion war schon immer eines meiner Lieblingsfächer. Aber ich habe das Fach dann abgewählt und bin in Ethik gewechselt, weil dieser Lehrer meine Fragen nicht ernst nahm. Jeder Glaubende hat doch Zweifel, das gehört dazu. Ich habe noch heute ein Problem mit Leuten, die ihren Glauben absolut setzen und keine Toleranz signalisieren.
Hubertus Heil
Hubertus Heil, Jahrgang 1972, ist seit 1998 Mitglied des Deutschen Bundestages und seit 2018 Bundesminister für Arbeit und Soziales, also sowohl im Kabinett Merkel als auch im Kabinett Scholz. Er ist Mitglied des SPD-Parteivorstandes, stellvertretender Vorsitzender und war zweimal Generalsekretär der Sozialdemokraten. Heil ist evangelisch, verheiratet und hat zwei Kinder. Er sitzt im Präsidium des Deutschen Evangelischen Kirchentages.
Der Satiriker Hans Zippert hat mal geschrieben: Jesus Christus wäre Sozialdemokrat gewesen. Stimmen Sie zu?
Ich würde Jesus nicht für eine Partei vereinnahmen. Aber ich glaube, dass im Programm der Sozialdemokratie ganz viel Bergpredigt steckt. Die Ideen von Emanzipation, Freiheit, Solidarität, Barmherzigkeit und Gerechtigkeit, das sind christliche Werte.
Liberale oder Konservative verorten Jesus ebenfalls regelmäßig in ihren Reihen. Haben die Unrecht?
Ich bin gegen plumpe Vereinnahmungen. Jede demokratische Partei zeigt eine Prägung, die aus der christlich-jüdischen Kultur herauskommt, aber niemand hat ein Monopol auf Jesus Christus. Mir fällt es aber schwer, christliche Überzeugungen mit Rechtsextremismus zusammenzudenken.
Wer ist Jesus für Sie?
Der Sohn Gottes. Eine historische Persönlichkeit. Und jemand, der in seiner Zeit Unglaubliches gesagt hat, was bis heute wirkt. Die Art, wie Jesus Gnade und Barmherzigkeit gepredigt hat, war, um es politisch auszudrücken, revolutionär.
Sie fordern von den Kirchen, dass sie hörbar sein sollen. Welche Botschaft wünschen Sie sich denn von den Kirchen an die Politik?
Die Kirche muss sich nicht in jeden Aspekt des politischen Tagesgeschäfts einmischen. Aber sie muss bei den großen Fragen präsent sein. Das ist sie heute, so empfinde ich es jedenfalls, zu wenig, es mag noch eine Nachwirkung von Corona sein oder am Mitgliederschwund liegen. Ich wünsche mir zum Beispiel mal eine Äußerung der Kirche zum Wert und der Würde von Arbeit.
Was soll bleiben vom Kirchentag?
Die Kirchentage meiner Jugend waren aufgeladen mit gesellschaftlichen Debatten. Rüstungsfragen zum Beispiel. Heute geht es um Digitalisierung. Krieg und Frieden, Klimawandel. Wärme entsteht durch Reibung und es muss einen Ort geben, an dem man sich in diesem Sinne, ohne sich gegenseitig Dinge übel zu nehmen, Argumente austauscht. Wo man sich zuhört, ohne sich gegenseitig in eine bestimmte Ecke zu stellen. Wo man die eigene Blase verlässt und sich respektvoll begegnet ─ in dem Wissen, dass man sich immer auch irren kann. Nur so kann Toleranz wachsen, auch in der Politik. Dort sind die Auseinandersetzungen nämlich ebenfalls härter geworden. Unversöhnlicher.
Raum für Reibung gibt es genug, Sie haben unter anderem Vertreter der Letzten Generation eingeladen. Warum bieten Kirchentag und auch die Evangelische Kirche dieser radikalen Klimabewegung immer wieder Raum?
Die Kirche darf nicht so tun, als sei die Letzte Generation die einzige Klimaschutzbewegung, das ist mir wichtig. Wir dürfen uns nicht anbiedern. Aber mit deren Vertretern zu reden, finde ich richtig. Wer Klimaschutz will, muss Kompromisse finden – auf beiden Seiten.
Die Letzte Generation demonstriert nicht friedlich, sie blockiert nachweislich Rettungskräfte, dringt in Hochsicherheitseinrichtungen wie Flughäfen ein, gefährdet Menschenleben.
Es ist nicht meine Bewegung. Ich habe ein Problem mit Rechtsbrüchen. Aber ich halte die „Letzte Generation“ im Gegensatz zu anderen nicht für terroristisch. Und so lange sie das nicht ist, muss man sich mit ihr auseinandersetzen. Das kann auch auf dem Kirchentag geschehen. Denn dort darf man der Bewegung ja auch widersprechen. Wir müssen auch anstrengende Unterhaltungen führen. Das gehört übrigens auch zum politischen Leben.
Wo wir gerade von Reibung sprechen: Bei der EKD-Synodentagung im November 2022 ging es hoch her, Thema war unter anderem Waffenlieferungen an die Ukraine. Auf dem Höhepunkt des Streits tat die Präses der EKD, Anna-Nicole Heinrich, etwas Ungewöhnliches: Sie ließ ein Kirchenlied anstimmen. So sang die versammelte Mannschaft: „Meine engen Grenzen, meine kurze Sicht bringe ich vor dich. Wandle sie in Weite, Herr erbarme dich.“ Wünschen Sie sich manchmal im Kabinett oder im Koalitionsausschuss, ein christliches Lied anstimmen zu können?
Ach, da geht es meist nicht so hoch her.
Wirklich?
Wir begegnen uns menschlich respektvoll und wenn es sein muss, machen wir mal einen Witz und schnaufen durch. Aber ich darf natürlich nicht über die Inhalte unserer Sitzungen sprechen. Denn Vertrauen braucht auch Vertraulichkeit.
Uns ist eine Anekdote über Sie zu Ohren gekommen: Ein Thema wurde im Plenum des Bundestages debattiert, Sie stellten eine Zwischenfrage, übten harte Kritik am Redner. Während dieser weitersprach, kam ein Assistent ins Plenum, überreichte Ihnen ein Papier, flüsterte etwas ins Ohr. Sie meldeten sich schließlich erneut zu Wort und entschuldigten sich vor versammelter Mannschaft. Ihr Angriff sei von falschen Informationen ausgegangen. Erinnern Sie sich an diese Begebenheit?
Nein, aber es kann so passiert sein.
Ein solches Eingeständnis ist ungewöhnlich. Politiker entschuldigen sich doch in der Regel eher erst dann öffentlich, wenn die Öffentlichkeit es fordert, oder?
Es macht einen nicht schwach, Schwächen auch mal zuzugeben. Oder Fehler. Das musste ich aber auch erst lernen. Wir Politiker stehen an sehr exponierter Stelle und ich erinnere mich daran, dass ich mich gerade als junger Abgeordneter sehr gepanzert habe. Zu unserem Job gehört ja in der Tat auch eine gewisse Härte, physisch wie psychisch. Ich habe mich aber davon verabschiedet, andere niederringen zu wollen. Es gelingt mir meistens, aber nicht immer.
Zum Beispiel?
Vor der letzten Bundestagswahl war ich in einer politischen Talkshow zusammen mit Friedrich Merz. Die Stimmung war sehr bissig und angespannt. Er sagte schließlich zu mir, ich sei ein furchtbarer Mensch. Ich sagte vor laufenden Kameras zu ihm, ich könne gut verstehen, dass Merkel ihn nie zum Minister gemacht habe. Wir waren wie zwei kleine Jungs im Sandkasten, die sich um die Förmchen streiten. Ich habe mich danach nicht gut gefühlt.
Haben Sie sich beieinander entschuldigt?
Nein, es gab nie ein klärendes Gespräch. Es sei an dieser Stelle gesagt: Ich fand es von uns beiden nicht gut. Vielleicht liest er es ja.
Das mit den Entschuldigungen in der Politik scheint so eine Sache zu sein: Angela Merkel hat sich genau einmal in ihrer Kanzlerschaft für eine politische Maßnahme entschuldigt. Die sogenannte Osterruhe. Können es sich ranghohe Politiker erlauben, Fehler zuzugeben?
Wer sich den ganzen Tag nur entschuldigt, wird vermutlich nicht gewählt. In der Politik muss man auch zu seiner Haltung stehen können, selbst wenn sie nicht populär ist. Man muss Stärke zeigen. Aber Irrtümer darf man zugeben. Und Schwächen im Übrigen auch. Ich habe es mal erlebt, dass mich ein Kollege nach einer politischen Entscheidung per SMS hart angegriffen und beleidigt hat. Ich habe das zuerst ignoriert, weil ich dachte, ich müsse zeigen, dass es mich nicht anfasst. Doch es ließ mir keine Ruhe und Wochen später habe ich ihm das gespiegelt. Er hat sich dann entschuldigt. Und es ging uns beiden besser.
Also, politische Fehler darf man zugeben. Was war denn Ihr größter?
Ich habe sicher viele gemacht. Wenn ich Kollegen angegriffen oder inhaltlich Dinge falsch eingeschätzt habe. Ich habe zum Beispiel mal im Wahlkampf vertreten, dass wir keine Mehrwertsteuererhöhung machen, am Ende kam sie aber doch. Das hat damals meine Partei Glaubwürdigkeit gekostet.
Uns fallen zwei weitere ein: Sie waren zwei Mal Generalsekretär der SPD und damit mitverantwortlich für den Wahlkampf. Beide Male, 2009 und 2017, schnitt ihre Partei historisch schlecht ab.
Ich bin als sehr junger Mensch das erste Mal Generalsekretär geworden. Und es war mir eine Ehre. Doch die Partei war innerlich zerrissen, es gab harte Streits nach der Einführung der Agenda 2010. Und ich musste lernen: Meine Kraft reichte nicht aus, um die Partei zusammenzuhalten und nach vorne zu führen. Das zweite Mal war ich getrieben vom Pflichtbewusstsein. Martin Schulz war damals Kandidat, der Hype ebbte ab und wir verloren plötzlich wieder Wahlen. Ich wollte helfen, aber es ist mir nicht gelungen, das Ruder in den wenigen Monaten, die nach meiner Berufung blieben, herumzureißen. Ich habe viel gelernt, aber vor allem, dass ich nicht alles schaffen kann.
Sie sind trotz Niederlagen im Amt, schon das zweite Mal Arbeitsminister. Wie macht man aus Niederlagen Siege?
Niederlagen gehen nicht spurlos an einem vorbei, aber jammern kommt nicht in Frage. Was ich allerdings getan habe, ist, mit Vertrauten darüber zu sprechen. Im politischen Raum wie auch in meiner Familie. Ich habe mich immer selbst geprüft und gefragt, ob es Sinn ergibt, weiterzumachen. Wir Politiker laufen Gefahr, uns für unersetzlich oder erwählt zu halten. Stattdessen müssen wir aber demütig sein.
Wann würden Sie aufhören?
Wenn ich antriebslos oder zynisch wäre. Politiker müssen ein dickes Fell haben, aber sie dürfen nicht dickfellig sein. Wir müssen durch dieses Fell hindurch weiter fühlen. Das will ich nicht verlernen.
Herr Minister, wir danken für das Gespräch!
Die Fragen stellten Anna Lutz und Johannes Schwarz.
Dieses Gespräch erscheint auch in der kommenden Ausgabe des Christlichen Medienmagazins PRO. Bestellen Sie PRO hier kostenlos.