In London haben die Volksvertreter im britischen Unterhaus (House of Commons) der Legalisierung von assistiertem Suizid in Großbritannien den Weg bereitet. Nach zweiter Lesung votierten 330 Abgeordnete für ein entsprechendes Gesetz, 275 stimmten dagegen.
Unheilbar kranke Menschen in England und Wales sollen künftig bei einem Selbsttötungswunsch auf legalem Weg Unterstützung beim Suizid erhalten können. Die Labour-Politikerin Kim Leadbeater hatte im Parlament eine entsprechende Gesetzesinitiative (Terminally Ill Adults (End of Life) Bill) auf den Weg gebracht.
Im Vereinigten Königreich ist bislang assistierter Suizid gemäß dem „Suicide Act“ aus dem Jahr 1961 verboten und kann mit bis zu 14 Jahren Haft bestraft werden. Das Gesetz entkriminalisierte im Kern Suizidversuche in England und Wales, sodass diejenigen, die einen Selbsttötungsversuch überlebten, nicht mehr strafrechtlich verfolgt werden. Jedoch eine Person, die die „Selbsttötung eines anderen oder einen Selbsttötungsversuch eines anderen unterstützt, begünstigt, berät oder veranlasst“, belegt das Gesetz weiter mit Freiheitsstrafe.
Selbst Briten, die Familienangehörige zur Durchsetzung ihres Selbsttötungswunsches beispielsweise in die Schweiz begleiten, müssen bislang nach der Rückkehr ins Vereinigte Königreich mit Strafverfolgung rechnen. Das neue Gesetz will die Würde Sterbewilliger erhalten und ihre Familien vor Strafverfolgung schützen. Aktive Sterbehilfe, bei der eine andere Person direkt den Tod herbeiführt, bleibt in Großbritannien verboten.
Vierstündige Debatte
Der Gesetzentwurf sieht vor, dass volljährige Personen mit einer Lebenserwartung von weniger als sechs Monaten, die einen klaren und freien Willen zur Selbsttötung bekunden, unter bestimmten Schutzmaßnahmen Unterstützung beim Suizid erhalten könnten. Unter anderen sind dazu die Zustimmung von zwei unabhängigen Ärzten und eines Richters des „High Court“ erforderlich. Befürworter argumentierten, dass das Gesetz würdevolles und selbstbestimmtes Sterben im Königreich ermögliche und unnötiges Leiden verhindere. Gegner führen Bedenken hinsichtlich des Schutzes vulnerabler Personen an.
Die viereinhalbstündige Debatte im britischen Parlament war geprägt von gegenseitigem Respekt. Viele der Parlamentarier berichteten von persönlichen Erlebnissen aus Familie und Freundeskreis zu dem Thema. Mehrere Abgeordnete erklärten, dass sie eine Flut an E-Mails, Anrufen und Briefen von Gegnern und Befürwortern des Gesetzes aus ihren Wahlkreisen erhalten hätten.
„Glitschiger Abhang“ oder „würdevolles Sterben“
Gegner des Gesetzes verwiesen auf Lücken in der Gesetzesvorlage. Sie bemängelten unter anderem, dass das Gesetz nicht regele, ob Mediziner gegenüber todkranken Patienten die Option des Suizids überhaupt zur Sprache bringen dürften. Sichere Aussagen über die Lebenserwartung todkranker Patienten seien ohnehin nicht möglich. Auch, dass Richter über die Ernsthaftigkeit einer Suizidabsicht befinden sollen und dabei medizinische Aspekte abwägen müssten, stieß bei den Gegnern des Gesetzes auf Bedenken.
Erhebungen zeigten, dass Länder, die assistierten Suizid nicht erlaubten, ein Vielfaches in Palliativemedizin investieren. Das Gesetz führe auf einen „glitschigen Abhang“, da es Druck auf vulnerable und schwerstbehinderte Menschen ausübe. Die Aufgabe des Gesundheitssystems (National Health Service) bestehe im Schutz und der Erhaltung des Lebens. Eine Gesetzesänderung bedeute eine fundamentale Umkehrung der Prinzipien. Die vorgesehenen Schutzmaßnahmen könnten nicht verhindern, dass Druck auf todkranke Menschen ausgeübt werde.
Die Befürworter des Gesetzes hoben hervor, dass das neue Gesetz ein würdeloses und oft gewaltsames Lebensende Leidender und Suizidwilliger abwenden könne. Es gehe nicht um ein „entweder, oder“ in der Debatte um assistierten Suizid. Die Parlamentarier waren sich einig, dass im britischen Gesundheitssystem die Palliativmedizin weiter ausgebaut werden soll. Die Befürworter betonten, dass der freien Willensentscheidung todkranker Menschen Rechnung getragen werden müsse. Zudem schütze das Gesetz die Angehörigen Suizidwilliger vor Strafverfolgung.
Die Debatte im Unterhaus erfolgte am Freitag ohne eine offizielle Position der Regierung. Die Abgeordneten votierten frei nach ihrem Gewissen. Parlamentspräsident (Speaker of the House of Commons), Lindsay Hoyle, hatten die Abgeordneten angesichts der Sensibilität des Themas zu Beginn der Debatte zu einer würde- und respektvollen Aussprache ermahnt. Mehr als 160 Abgeordnete hatten gewünscht, zu dem Thema in der Debatte zu sprechen. Im britischen „House of Commons“ leitet der „Speaker“ die Debatten der Abgeordneten und legt die Liste der Redner fest.
Religionsführer sprachen sich gegen das Gesetz aus
In der Gesellschaft, im Parlament und selbst in der Regierung von Labour-Premier Keir Starmer gingen die Ansichten zum assistierten Suizid auseinander. Unter anderem hatten sich Justizministerin Shabana Mahmood und Gesundheitsminister Wes Streeting gegen den Gesetzentwurf ausgesprochen. Streeting hatte vor einem „gefährlichen Abgleiten“ gewarnt, bei dem Menschen sich verpflichtet fühlen könnten, ihr Leben zu beenden, um Angehörige oder das Gesundheitssystem nicht zu belasten.
Auch rund 30 führende Vertreter britischer Kirchen und Religionsgemeinschaften, darunter Kardinal Vincent Nichols, die Bischöfin der anglikanischen Kirche von London, Sarah Mullally und Oberrabbiner Ephraim Mirvis, hatten in einem offenen Brief vor der Legalisierung der Suizidbeihilfe gewarnt. Die Unterzeichner befürchten, dass ein „Recht auf Sterben“ schutzbedürftige Menschen unter Druck setzen könnte, eine „Pflicht zu sterben“ zu empfinden. Stattdessen plädieren sie für den Ausbau der Palliativmedizin und Hospizversorgung. Erfahrungen aus anderen Ländern hätten gezeigt, dass Schutzmaßnahmen nicht immer ausreichend seien.
In einem Hirtenbrief hatte Kardinal Nichols erklärt: „Das Leiden eines Menschen ist nicht sinnlos.“ Es zerstöre nicht die Würde des Menschen und sei ein wesentlicher Teil des menschlichen Weges, „eines Weges, den das ewige Wort Gottes, Jesus Christus selbst“, eingeschlagen habe. „Er bringt unser Menschsein gerade durch das Tor des Leidens und des Todes zu seiner vollen Herrlichkeit.“ Auch Justin Welby, der ehemalige Erzbischof von Canterbury, hatte vor den Folgen der Legalisierung gewarnt. Er warnte vor der Ausweitung des geplanten Gesetzes auf Menschen, die nicht unheilbar krank seien.
Bis das Gesetz in England und Wales in Kraft treten kann, – in Schottland, auf der Isle of Man und auf Jersey sind eigene Bestrebungen im Gange, die Sterbehilfe zu legalisieren – sind noch weitere Schritte erforderlich. Nach dem Votum des Parlaments müssen im Königreich Gesetze noch parlamentarische Ausschüsse, eine weitere Lesung und das britische Oberhaus (House of Lords) durchlaufen, bevor sie durch Unterschrift des Monarchen Gesetzeskraft erhalten. Sollte der Gesetzentwurf alle parlamentarischen Hürden nehmen, könnte ein entsprechendes Gesetz in den nächsten zwei bis drei Jahren in Kraft treten.