Die Mitarbeiter der Bibliothek in Leicester waren zunächst verwirrt, als sie wiederholt beobachteten, dass muslimische Besucher an Regalen vorbeigingen und die Schriften des Islams oberhalb der restlichen Bücher platzierten. Auf Nachfrage stellte sich heraus: der Vorgang entspricht islamischer Tradition. Dem Koran gebührt ein erhöhter Platz im Raum. So soll eine besondere Wertschätzung für das „Wort Gottes“ ausgedrückt werden.
Die „Föderation muslimischer Verbände“ in Leicester empfahl der Bibliothek daher nun, religiöse Schriften generell oberhalb der restlichen Bücher zu präsentieren. Der für die Bibliotheken zuständige „Rat für Museum, Bibliotheken und Archive“ (Museums, Libraries and Archives Council, MLA) kam der Empfehlung nach und veröffentlichte sie in ihrer neuesten Richtlinie. Die Regelung betrifft neben dem Koran auch die Bibel sowie sonstige religiöse Schriften und Literatur.
Doch die Regelung hat einen entscheidenden Nachteil: Aufgrund der Höhe sind die „Heiligen Schriften“ für die Besucher oft außer Reichweite. „Einer der zentralen Punkte der Reformation war, dass die Bibel für jeden frei zugänglich sein sollte“, kommentiert etwa Robert Whelan vom „Civitas“-Institut die Entscheidung der MLA. Und ergänzt: „Bibliotheken und Museen sind keine Gotteshäuser. Religiöse Ansichten sollten hier keinen Einfluss finden.“
„Rückkehr zu mittelalterlichen Verhältnissen“
Kritik kam auch von christlichen Verbänden. Simon Calvert vom „Christian Institute“ sagte laut Onlineausgabe der britischen Tageszeitung „Daily Mail“: „Es ist enttäuschend, dass die Bibliotheks-Politik von den Gewohnheiten einer einzelnen Gruppe bestimmt wird. Ich hoffe, dass hier nochmal ein Umdenken stattfinden wird. Ich verstehe, dass Muslime ihre eigenen Texte bevorzugen, aber in öffentlichen Bibliotheken sollten religiöse Schriften nicht außerhalb der Reichweite der Besucher platziert werden.“
Chris Sudgen, Mitglied des „Mainstream Movement“ der anglikanischen Kirche in England, sieht in der Regelung gar eine Rückkehr zu mittelalterlichen Verhältnissen, „als die Bibel nur von Priestern in lateinischer Sprache gelesen werden konnte, unerreichbar für die einfachen Leute“. Er schlug laut „Daily Mail“ vor, zusätzliche Kopien auszulegen, „von denen einige auch in Reichweite von Kindern stehen sollten“.
Dass die von muslimischer Seite geforderte Richtlinie auch für die Bibel gelten soll, kann selbst Inayat Bunglawala vom islamischen Institut „Engage“ nicht verstehen. Er befürwortet das Entgegenkommen der MLA zwar. „Aber wenn Christen sich mit einer ähnlichen Behandlung nicht einverstanden zeigen, sollte sie auch nicht geschehen“, sagte Bunglawala laut dem Onlineauftritt des Magazins „ChristianPost“.
Ob die Regelung an den Universitäten begrüßt wird, ist ebenfalls fraglich. Erst vergangene Woche hatte der englische Hofdichter Andrew Motion, der einen Lehrstuhl an der Londoner Universität innehat, in einem Interview mit der Tageszeitung „The Guardian“ gefordert, dass Literaturstudenten künftig bessere Kenntnisse der Bibel benötigten. (PRO)